Familienverstrickung hinter bürgerlichen Fassaden

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
bücherhexle Avatar

Von

Bergljot ist eine geschiedene Frau um die 60. Sie hat drei erwachsene Kinder sowie bereits Enkelkinder. Mit ihren Eltern und Geschwistern hat sie seit 23 Jahren keinen nennenswerten Kontakt mehr, vor langer Zeit kam es zum Bruch – warum bleibt lange unklar. Unerwartet meldet sich Bergljots Bruder Bard bei ihr: Der Vater will offenbar seinen Nachlass ordnen und plant, die beiden Ferienhäuser auf der Insel Hvaler nur den beiden jüngeren Schwestern Asa und Astrid zu übertragen. Bergljot und Bard sollen halbherzig dafür entschädigt werden. Bard regt sich über diese Ungerechtigkeit maßlos auf und sucht die Unterstützung seiner Schwester. Die Erbstreitigkeit ist der Auslöser dafür, dass bei Bergljot ein erlittenes Trauma wieder an die Oberfläche stößt und ihre zuletzt gewonnene Stabilität ins Wanken bringt. Dabei geht es ihr nicht um die Erbschaft, ihre Probleme sind viel weitreichender und man tastet sich nur langsam vor.

Der Roman wird ausschließlich aus der Sicht von Ich-Erzählerin Bergljot erzählt. Als Leser sind wir dicht an ihr dran, wir erfahren ihre Gedanken, Emotionen sowie die Komplexität ihrer Seelenleiden. Wir lernen ihre Ratgeber kennen. Sie berichtet, dass sie jahrelang intensive Psychoanalyse benötigte, dass sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, um mit einem verheirateten Professor eine Beziehung zu haben. Heute lebt sie mit Lars zusammen, aber auch er kann nicht verhindern, dass sie ihre Sorgen und Nöte mit Alkohol und Rastlosigkeit betäubt. Bergljot ist keine Sympathieträgerin. Trotzdem hört man ihr zu, empfindet große Empathie mit einer Frau, die Erlebnisse aus der Kindheit, die direkt zu ihrer Herkunftsfamilie führen, nicht verwinden kann. Der plötzliche Tod des Vaters führt schließlich zu persönlichen familiären Kontakten, denen sich Bergljot nicht entziehen kann. Immer wieder ist ein Elefant im Raum, um den sich für Bergljot alles dreht, den die anderen aber nicht sehen wollen, der für sie sogar inexistent ist. Das tut ihr unendlich weh, während sich die anderen Familienmitglieder Ruhe hinter der Fassade einer intakten, glücklichen Familie wünschen. Der Kampf um die Deutungshoheit der Wahrheit bestimmt den Roman.

Der Gedankenstrom Bergljots führt von der Gegenwart ausgehend in ausgesuchten Sequenzen zurück in die Vergangenheit. Er zeigt eine Mutter, die wenig belastbar ist und dies theatralisch zu inszenieren weiß. Der Vater zeigt sich als Patriarch. Als Geschäftsmann arbeitet er viel und erschafft ein umfangreiches Vermögen. Die Geschwister teilen sich schon recht früh in zwei Parteien auf, sie buhlen um Liebe und Zuwendung der Eltern. Für den Leser ist die Lektüre fordernd. Das Stilmittel der Wiederholung passt zwar hervorragend, um das Innenleben und die Gedankenkreisläufe der Protagonistin zu beleuchten, nutzt sich stellenweise aber auch etwas ab. Man braucht definitiv Konzentration und Aufmerksamkeit. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich ab. Neue Aspekte und Fakten treten fortlaufend hinzu, teilweise aber ohne Unterbau, so dass man sich manches herleiten oder erdenken muss. Es wird definitiv nicht alles auserzählt. Dennoch bekommt man ein immer klareres Bild, worum es im Kern geht, worin der eigentliche Konflikt besteht, welche Verletzungen Bergljot auch nach Jahrzehnten nicht hinter sich lassen kann. Das Leiden wird in fast jedem Satz spürbar:

„Was ich damals empfand, habe ich später gedacht, als ich anfing mein Leben zu verstehen, war, dass ein Augenblick der Erkenntnis näher rückte, ich spürte es, wie ein Tier die Vorboten eines Erdbebens spürt, bevor es ausbricht. Mir graute, und ich zitterte vor der schmerzhaften Erkenntnis der Wahrheit, die mich beben lassen und in Fetzen reißen würde, vielleicht arbeitete ich unbewusst daran, die Erkenntnis zu beschleunigen, um es hinter mich zu bringen, wenn ich ihr schon nicht entkommen konnte.“ (S. 32)
Dieses Psychogramm liest sich sehr fesselnd. Die Konstruktion des Romans ist gelungen, sie führt zu einem vermeintlichen Höhepunkt hin, um die Handlung anschließend wieder in ruhigere Fahrwasser zu leiten. Die einzelnen Charaktere gewinnen zunehmend an Kontur, weil andere Perspektiven in den Text Eingang finden. Bergljot ist keinesfalls selbstgerecht, sie geht mit sich hart ins Gericht, hinterfragt eigene Entscheidungen, übt Selbstkritik und leidet unter permanenten Schuldgefühlen. Sie erkennt die Leistung der Schwestern rund um die betagten Eltern an. Dieser Facettenreichtum zeigt die Komplexität der familiären Verstrickungen, die bis in die Enkelgeneration hineinreichen. Selten geht einem die Zerrissenheit und Ambivalenz einer Figur so nahe. Automatisch kommt man ins Nachdenken darüber, wie man selbst an dieser oder jener Stelle gehandelt hätte. Es liegt ein schwerwiegender Familienkonflikt zugrunde, bei dem man sich vor Augen halten muss, dass fast ausschließlich die Sicht Bergljots im Fokus steht.

Ich habe den Roman, der bereits 2019 unter dem Titel „Bergljots Familie“ im Osburg Verlag erschien, zum zweiten Mal begeistert gelesen. Vigdis Hjorth hat einen interessanten, außergewöhnlichen Schreibstil. Die Kapitel sind meist kurz, die Geschichte baut sich langsam auf. Hat man sich aber erst einmal auf die Erzählung eingelassen, kommt man nicht mehr davon los. Ein Roman, der einen in die Tiefen erlittener Traumata und Verletzungen führt, der zeigt, dass man erlittenes Unrecht nicht einfach hinter sich lassen kann, dass es im Gegenteil sehr lange Arme hat.

Ein starkes, psychologisch dichtes und sehr authentisches Stück Literatur! Große Leseempfehlung!