Norwegische Familiengeschichte

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Die Ich-Erzählerin Bergljot, um die 50, geschieden, drei erwachsene Kinder und in einer festen Beziehung lebend, wird in heftige Turbulenzen ihrer Familie hineingezogen. Einer Familie, der sie schon länger den Rücken gekehrt hat, zu der sie bis auf sehr seltene Telefonate mit ihrer Schwester Astrid jeden Kontakt abbrach. Nun verständigt einer dieser Anrufe sie über den missglückten Selbstmordversuch der Mutter. Im Rahmen der Nachlassregelung der vermögenden Eltern, haben diese den beiden jüngeren Schwestern Astrid und Åsa zwei Ferienhütten überschrieben und den Bruder Bård mit einem viel zu niedrig angesetzten Verkaufswert ausbezahlen wollen. Diesem, der im Gegensatz zu Astrid und Åsa auch nur wenig Kontakt mit den Eltern pflegt, geht das sehr gegen den Strich und er fordert eine gerechte Aufteilung der Hütten auf alle vier Kinder. Der Eklat, der darauf folgte, trieb die Mutter anscheinend zu ihrem dramatischen Schritt.
Bergljot will sich eigentlich nicht in diese Familienstreitigkeiten hineinziehen lassen, sie will Abstand zur Familie, und das bereits seit 23 Jahren. Damals, Bergljot war noch mit ihrer Dissertation über das moderne deutsche Drama beschäftigt, hatte schon Kinder, einen „lieben“ Mann und ein renovierungsbedürftiges Haus, bricht etwas lang Verdrängtes sich plötzlich Bahn. Als Bergljot ein kleines Mädchen war, missbrauchte ihr Vater sie sexuell. Wie konnte das so lange verschüttet bleiben? Bergljot erleidet einen Zusammenbruch, nimmt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Ihre Familie, der Vater, die Mutter, die Schwestern – alle leugnen, glauben ihr nicht, bezeichnen sie gar als „Psychopathin“. Lediglich der Bruder, der selbst unter dem Vater litt, verhält sich neutral. Bergljot bricht mit ihrer Familie, lässt sich scheiden, hat weiterhin eine Affäre mit einem verheirateten Professor, bemüht sich, zu vergessen.
Nun versuchen die Geschwister, Bergljot in der Hüttenfrage auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Und plötzlich sind die alten Kränkungen wieder da, die Erinnerungen, die Verleugnungen, die zerbrochene Loyalität. Und Bergljot versucht, endlich wieder die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte zurückzuerlangen, sich der Vergangenheit zu stellen. Auch und gerade, als der Vater überraschend stirbt.
Geschrieben ist das schnörkellos und klar, ausschließlich auf Bergljots Perspektive beschränkt, die immer wieder zurückblendet, sich mit ihren Freunden Klara, Karen und Bo, mit ihrem Lebenspartner Lars und ihren drei Kindern austauscht, über Briefe, E-Mails, SMS und Telefonate. Es wird viel getrunken und wir werden tief in die Familie hineingezogen, in das Leiden der Ich-Erzählerin, die ihre Ecken und Kanten hat. Vigdis Hjorth nimmt Bezug auf die Psychoanalyse Freuds und vor allem C.G.Jungs und auf den dänischen Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg (1998), der ein ähnliches Thema verhandelt. Auch schweift die Erzählerin immer wieder mal in abstrakte Betrachtungen ab. Eine gewisse Redundanz ist dem hohen Leidensdruck Bergljots zuzuschreiben, dabei bleibt sie aber stets hochreflektiert. Es geht ihr um Gerechtigkeit und um das gehört werden. Der Familie geht es um ihre blanke Existenz, die wohlgehüteten Lebenslügen. Vigdis Hjorth stieß mit der Veröffentlichung 2016 eine schon bekannte Debatte erneut an: gewisse biographische Parallelen, Briefe, ein Gedicht der Mutter und der Ablauf der Beerdigung des Vaters wiesen auf nur wenig verhülltes autobiographisches Material hin. Hjorth wurde der Vorwurf gemacht, die Privatsphäre ihrer Familie zu verletzen. Ihre Schwester Helga „antwortete“ sogar mit einem Gegenroman, der vor allem auch die Missbrauchsvorwürfe vehement zurückwies. Die Debatte, was Autofiktion darf, ist ja spätestens seit Karl Ôve Knausgård prominentes Thema, nicht nur in Norwegen.