Wie lebe ich weiter, wenn ich als Kind missbraucht wurde?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
frischelandluft Avatar

Von

Manchmal muss man eine Familie komplett verlassen, um zu überleben, die Geschichte einer starken verletzlichen Frau nach Kindesmissbrauch
Kann man in einer zerbrochenen Familie noch etwas retten, wenn über den Grund des Bruchs geschwiegen wird bzw. die Meinungen auseinanderklaffen? Als Leserin erleben wir den Schmerz, die Selbstzweifel, die Wut, die Ratlosigkeit, die Kraft und die Schwäche der etwa 50jährigen Erzählerin, die als 5jährige von ihrem Vater missbraucht wurde. Es ist nicht überraschend, aber trotzdem erschütternd, wie immens die Auswirkung der Tat, in der sie das unschuldige Opfer war, nach über 40 Jahren auf alle Bereiche ihres Lebens ist. Die Tat und vor allem die Art, wie ihre Familie als Familie damit umgegangen ist, stehen wie eine Mauer zwischen ihr und ihren Eltern und Geschwistern, die sich entscheiden, ihr nicht zu glauben. Statt Kommunikation gibt es Streit oder Stille. Für die Erzählerin gibt es sichere und unsichere Lebensbereiche. Die Familie, die ihre absolute Sicherheitszone sein sollte, ist ein Scherbenhaufen. Der Vater wurde wohl selbst als Kind missbraucht – wiederholt sich eine Geschichte? - sagt nichts, verliert sich in Alkohol, ihre Mutter, zu der sie Urvertrauen haben sollte, war und ist zu schwach, um sich auf ihre Seite zu stellen aus Angst vor dem gesellschaftlichen Aus. Zum Schutz des Scheins blendet sie den Missbrauch aktiv aus und manipuliert die jüngeren Schwestern der Erzählerin. Es ist eine schreckliche Situation, die immer wieder eskaliert. Vieles wird thematisiert: teilweise Amnäsie, Depression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Scheidung, Ehebruch, Teufelskreise, die gebrochen werden müssen.
Die Erzählerin ist ein Opfer, aber sie beißt sich durch, zeigt neben ihrer Verletzlichkeit eine Wahnsinnstärke, sie hat sich ihr eigenes Netzwerk aus Freunden und Kindern geschaffen, denen sie sich öffnet und die sie um Hilfe bittet. Der Schmerz bleibt, man kann ihn weder schönreden noch ignorieren, noch vergessen, er ist einfach immer da. Das Buch liest sich sehr gut, über 5 Monate hinweg wird linear mit Rückblicken erzählt, die die Präsenz der Vergangenheit verstärken, die Erzählerin mit dem für mich neuen Namen Bergljot hat mich in ihren Bann gezogen. Es war mein erstes Buch von Vigdis Hjorth, ich habe ich schon das nächste gekauft, auf Englisch, denn leider scheinen nicht so viele Bücher von ihr bisher ins Deutsche übersetzt worden zu sein.