Weibliches Erzählen

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Zwei Frauen, Jahrhunderte voneinander getrennt, verbunden für immer. Was die eine fühlte, kann die andere durch ähnliche Erfahrungen erahnen, begibt sich auf ihre Spuren. Wird sie sie finden?

Meinung
Es ist sehr lange her, dass ich ein Buch an nur zwei Abenden ausgelesen habe – mich festgelesen habe. „Ein Geist in der Kehle“ überzeugt mit allem, verlangt aber eine Menge Feinsinn und Einfühlungsvermögen. Die irische Autorin Doireann Ní Ghríofa, die in einer originalsprachigen Rezension als „one of the last noblewomen of the old ways, the old Irish order“ bezeichnet wird, ist bisher mit Gedichtbänden in Erscheinung getreten, dabei in Gälisch schreibend und gleichzeitig eine englische Übersetzung aus eigener Feder verfassend. Sie hat nun ihren ersten Prosatext vorgelegt, der erahnen lässt, wie die Lyrikerin denkt, wie sich ausdrückt. Ihre Themen scheinen zunächst nicht in den heutigen Feminismus zu passen; Mutterschaft, Familie, aber auch Tod und Unglück stehen bei ihr hoch im Kurs. Doch der Feminismus ist groß, auch wenn wir leider oft nur eine seiner Seiten gezeigt bekommen.
Schon als Schülerin stößt die Autorin auf Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die Mitglied des irischen Adels war und durch den gewaltsamen Tod ihres Mannes zur Dichterin wurde. Sie gilt als Hauptverfasserin des Caoineadh Airt Uí Laoghaire, eines traditionellen irischen Klagelieds, das im 18. Jahrhundert in Irland komponiert wurde.
Als Doireann mehrere Kleinkinder zu versorgen hat und in einem gleichmäßigen Alltag gefangen scheint, der aus Listen und Milchpumpen besteht, sucht sie nach Spuren von Eibhlín, ohne zu ahnen, dass sie sich längst auf ihren Weg gemacht hat. Doireann und ihr Mann müssen sparen, da ein Einkommen fehlt, sie müssen sehr oft umziehen, da die Vermieter großen Druck machen. Eines Tages lebt die junge Mutter plötzlich fast dort, wo es auch ihr Vorbild einst tat.
Es sind alltägliche Beschreibungen, Kinder, aufräumen, aber auch mit einem Baby und schwanger in einer Bibliothek nachforschen, Wäsche waschen, Milch abpumpen. Hat es Eibhlín einst ähnlich getan? Was schreibt sie selbst dazu in ihrer Klage? Und was wurde aus ihr? Doireann findet nur Briefe von Brüdern und Söhnen, die sich für das Leben der Frauen nur mäßig interessieren, eben nur dann, wenn es ihr eigenes streift oder gar durcheinanderbringt. Eibhlín, die nach einer Zwangsehe mit einem wesentlich älteren Mann, der früh verstirbt, selbst entscheidet, den Mann, den sie liebt, auch gegen den Willen der Eltern zu heiraten. Als sie mit seinem dritten Kind schwanger ist, das nie atmen wird, erschießt man ihn.
Doireann, deren viertes Kind beinahe bei der Geburt stirbt und die den Alltag als Mutter mit kleinen Kindern kennt und natürlich den als Frau, fragt sich, wie es danach weiterging. Sie findet nur winzige Spuren der Dichterin. Söhne, die erwachsen wurden, alle beieinander begraben, Brüder, die wegen der Ausbildung eben dieser Söhne der unwillkommenen Schwester streiten. Aber was wurde aus ihr? Wie lebte sie, wie zog sie ihre Kinder groß? Wann und wie starb sie und wo wurde sie beerdigt? Doireann wird Jahre damit zubringen, das herauszufinden. Eine wahre Sisyphusarbeit, aber sie verschreibt sich dieser. Sie arbeitet ebenfalls daran, das in der irischen Landessprache verfasste Klagelied zu übersetzen. Aber es sind mehr als Worte, das hat die Lyrikerin verstanden. Es ist ein Leben, ein Gefühl, als Frau, als Mutter, als Geliebte. Und genau dem spürt sie nach, spürt sie selbst, ist sie selbst.
Es ist schwer zu beschreiben, es ist ein Werk, das man selbst gelesen haben muss und sollte. Wie wichtig aber die Auseinandersetzung mit all dem ist, zeigt die deutsche Übersetzung des Caoineadh, die mir persönlich nicht gefallen hat. Diese ist im Original, der englischen und schließlich der deutschen Übersetzung angefügt. Am Ende folgt, zumindest im Leseexemplar, ein Interview mit der Autorin.
Doireann Ní Ghríofa ist eine großartige Autorin, die verstanden hat, dass ein Text leben muss.