Der Krieg folgt dir überall hin

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marapaya Avatar

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Sheldon Horowitz ist 82 Jahre alt und soll seiner Heimat den Rücken kehren. Den Großteil seines Lebens hat er in New York verbracht, nun ist seine Frau verstorben und seine Enkelin Rhea hat in Norwegen einen Mann und ein neues Leben gefunden. Sie macht sich Sorgen um ihren Großvater und bittet ihn zu ihnen zu ziehen. Sheldon ist ein anstrengender Zeitgenosse. Er hat in Korea gedient, er ist amerikanischer Jude und hat ein Faible für Uhren. Er sieht die Welt mit eigenen Augen und wird von seiner Umgebung leichtfertig als dement abgestempelt. Doch Sheldon ist topfit, er kann Situationen nach wie vor schnell erfassen und auf das Wesentliche analysieren. So zögert er nur kurz, als die Nachbarin von oben Hilfe braucht und versucht Mutter und Sohn vor den grobschlächtigen Osteuropäern zu beschützen. Sheldon kann den Jungen retten, geht zusammen mit diesem in einem für ihn fremden Land auf einen abenteuerlichen Roadtrip ohne zu ahnen, worauf er sich eigentlich eingelassen hat und mit wem es schließlich seine gesamte Familie zu tun bekommen wird.
Derek B. Miller ist ein schräger, witziger und beklemmend aktueller Thriller gelungen. Sein Hauptcharakter Sheldon Horowitz verschlägt einem den Atem in vielerlei Hinsicht. Man durchschaut ihn nicht, weiß fast bis zum Schluss nicht, ob er nun dement, abgebrüht oder wahnwitzig ist. Aber man schließt ihn ins Herz, verbündet sich mit ihm und drückt ihm die Daumen, dass alles gut gehen wird für ihn und den Jungen.
Sheldons eigene Vergangenheit und die seines Volkes nimmt einen großen Stellenwert im Roman ein. Der Krieg als solcher ist omnipräsent, doch er bezieht sich nicht allein auf den einschneidenden 2. Weltkrieg. Vielmehr sind es die vielen Kriege danach, die in den umwälzenden, langwierigen Veränderungen der Weltkriege im Gedächtnis der Menschen unterzugehen drohen und letztlich doch gerade aus ihnen erwachsen sind: Der Koreakrieg, der Vietnamkrieg und schließlich die Kriege in Jugoslawien, die teilweise noch keine 20 Jahre zurückliegen. Sheldon verlor seinen einzigen Sohn Saul in Vietnam. Er selbst hat als Scharfschütze in Korea Dinge erlebt, über die er zunächst mit niemandem sprach und die ihm später keiner mehr glauben wollte. Er hat ein Gespür für Menschen, insbesondere Veteranen. Dem Mann, vor dem die Nachbarin mit ihrem Sohn floh, entströmte der Krieg aus all seinen Poren. Er wurde in seiner Heimat vom Opfer zum Täter, Vergeltung und Ehre bestimmen sein Leben und dass sich ein alter Mann zwischen ihn und seinen Sohn stellt, ruft alte Verhaltensmuster auf den Plan.
Millers Perspektive auf Norwegen ist ungewohnt. Sheldon als neu Hinzugezogener betrachtet das Land mit seinen amerikanischen Augen, nimmt Nuancen auf, die vielleicht nur er erkennen kann. Lässt auf seinem Trip den Blick schweifen über die idyllische Landschaft, stellt uns auch ein Norwegen vor, wie wir es alle zu kennen glauben. Doch übt sich im Gegenzug auch die Ermittlerin der norwegischen Polizei im vor allem kritischen Blick auf ihr Land und ihre Landsleute. Probleme werden durch den Fall ans Tageslicht geholt, die im Land schwelen und denen das tolerante, weltoffene Norwegen lieber versucht mit gut gemeinter Ignoranz zu begegnen. Die angeschlagenen Themen im Buch lassen Nachdenklichkeit zurück. Unsere Welt hat noch so viele Wahrheiten aufzuarbeiten und ständig kommen neue Ungerechtigkeiten und Probleme hinzu. Miller schafft mit seinem Roman den Spagat zwischen literarischer Spannung und absoluter Tiefgründigkeit, die uns alle betrifft und Gänsehaut ob ihrer Aktualität erzeugt.