Ein seltsamer Ort zum Sterben - Sehr anspruchsvoll und politisch

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Zunächst möchte ich ganz deutlich erwähnen, dass dieses Buch KEIN Thriller ist und auch nicht den Anspruch erhebt. Es ist deutlich als ROMAN gekennzeichnet und ist das auch. Deshalb ist er auch unter „Literatur“ eingeordnet. Ein Mord allein macht noch lange keinen Krimi oder Thriller! Wer also einen Thriller oder Krimi lesen möchte, der sollte von diesem Buch deutlich Abstand nehmen!

Zum Buch: Sheldon Horowitz, 82 Jahre alt und Witwer, zieht zu seiner Enkelin nach Oslo. Sein Sohn Saul ist in Vietnam gefallen und Sheldon macht sich dafür verantwortlich, denn er hat einen "Kriegskomplex": noch immer hat er den Holocaust nicht verwunden. Das ist natürlich verständlich, aber Sheldon wählt den falschen Weg, um Gerechtigkeit zu finden. Er war in Korea im Einsatz. Seiner Familie hat er erzählt, er war in der Schreibstube, doch die Wahrheit ist eine andere. Als er endlich davon erzählen möchte, tut es seine Familie als Angeberei bzw. Symptom seiner Demenz ab. Auch seinen Sohn hatte er nicht davon abgehalten, in Vietnam zu kämpfen. Sogar einen zweiten Einsatz Sauls dort lässt er zu. Dieser endet tödlich.

Körperlich vom Krieg unversehrt, aber selisch gebrochen, agiert Sheldon dermaßen unverständlich für andere, dass seine Frau irgendwann der Überzeugung war, das müsse Altersdemenz sein. Doch ist es das wirklich? Im Buch wird sehr schnell deutlich, dass Sheldon sehr wohl weiß, was real und was imaginär ist. Er spricht mit Bill, einem Freund aus früheren Tagen, als Sheldon noch sein Uhrengeschäft hatte. Doch dieser lebt nicht mehr und Sheldon weiß das auch. Sheldon weiß ebenfalls, dass Bill für ihn nur ein "Ersatz" für Gott ist, mit dem er abgeschlossen hat, weil dieser es zuließ, dass sein Sohn Saul in Vietnam gefallen ist. Sheldon ist verbittert und erwartet von Gott sowohl eine Erklärung als auch eine Widergutmachung für all das Leid, das er zulässt.

Als nun ausgerechnet vor seiner Tür ein Drama beginnt, in dessen Verlauf Sheldon einen kleinen Jungen rettet, aber nicht die Ermordung dessen Mutter verhindern kann, macht er sich auf den Weg. Er weiß, er muss diesen Jungen in Sicherheit bringen. Sheldons Enkelin, die gerade eine Fehlgeburt hatte, und deren Freund Lars machen sich ebenso auf die Suche nach Sheldon, wie die Polizisten Sigrid und Petter. Die Geschichte von Rhea, Lars, Sigrid und Petter wird nur am Rande erwähnt, quasi nur so viel (oder wenig), wie unbedingt nötig ist, um den Sinn zu verstehen. Die eigentliche Story ist Sheldons Weg zu seinem inneren Frieden. Den versucht er dadurch zu finden, indem er all seine eigenen Fehler widergutmacht durch die Rettung des kleinen Jungen, dessen Sprache er nicht spricht und der die ganze Zeit über stumm bleibt. Er nennt ihn „Paul“ – in Anlehnung an seinen Sohn Saul. Sheldon weiß, dass er Saul nicht retten kann, aber Paul sehr wohl. Es kann auch sehr gut sein, dass der Autor dem Leser damit die Geschichte von Saulus und Paulus ins Gedächtnis rufen wollte.

Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt. Es beginnt mit „Der 59. Breitengrad“. Auf diesem liegt Oslo (neben Stockholm, Helsinki und Sankt Petersburg), hierher hat es Sheldon, der in Kampfsituationen immer „Donny“ ist (ein Relikt aus seiner Zeit als Soldat in Korea) mit seiner Enkelin, die nach dem Tod ihres Vaters bei Sheldon und seiner Frau gelandet ist, weil ihre leibliche Mutter unfähig war, sie großzuziehen, verschlagen. Rhea nennt ihn „Papa“.

Der zweite Abschnitt ist betitelt mit „Flussratten“. Das bezieht sich auf Sheldons Mitteilung an Rhea, in der er ihr versteckt mitteilt, wo er hinzugehen gedenkt. Es ist ein Zitat von Mark Twain (Huckleberry Finn).

Der dritte Teil heißt „New River“. Dieser ist ein Zusammenschluss vom North Fork New River und dem South Fork New River. Für mich der Inbegriff dafür, dass Sheldon mit sich ins Reine kommt und „Nord und Süd“, also Gut und Böse, Krieg und Frieden, Hass und Liebe usw. einen gemeinsamen Nenner finden und gemeinsam existieren können und sogar müssen.

Fazit: Das Buch ist keine lockerflockige Lektüre. Es strengt den Leser teilweise extrem an, es fordert ihn und es belastet ihn. Wer trotzdem durchhält und sich für die Story öffnet, der wird durch das Buch sogar sehr bereichert. Das geht aber nur, wenn man meinen anfangs erwähnten Punkt beachtet: es ist KEIN Krimi/Thriller! Es ist anspruchsvolle Literatur, die politisch und philosophisch geprägt ist. Das Titelbild ist wunderschön gestaltet, obwohl es recht schlicht ist. Aber es trifft den Kern der Sache, es passt zum Buchinhalt und es lässt Raum für die eigene Phantasie. Für einen Erstlingsroman ein extrem beeindruckendes Werk!