Kriegsveteran Sheldon Horowitz auf seiner letzten Mission

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buecherfan.wit Avatar

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Im Mittelpunkt von Derek B. Millers Debütroman “Ein seltsamer Ort zum Sterben” (Originaltitel: “Norwegian by Night” ) steht der 82jährige jüdische Kriegsveteran Sheldon Horowitz, der kürzlich seine Frau Mabel verloren hat und von seiner Enkelin Rhea und ihrem Mann Lars nach Oslo geholt wird. Sie will sich um den alten Mann kümmern, der sie aufgezogen hat und den sie liebevoll Papa nennt. Sheldon hat Schwierigkeiten, sich in dem fremden Land einzuleben. Er versteht die Sprache nicht und fühlt sich entwurzelt.

Eines Tages steht nach einem gewalttätigen lauten Streit in der Wohnung über ihm eine Frau vom Balkan mit ihrem 6jährigen Sohn vor seiner Tür. Er gewährt ihnen Zuflucht, kann aber die Ermordung der Frau durch ihren Verfolger nicht verhindern. Er hat sich mit dem Kind im Wandschrank versteckt und bedauert seine Gebrechlichkeit. Später flieht er mit dem Jungen und setzt alles daran, wenigstens sein Leben zu retten.

Dies ist der Auftakt zu einem Roman, der sich der Zuordnung zu einem literarischen Genre weitgehend entzieht. In der Geschichte von Mord und Totschlag, von Flucht und Verfolgung vereint der Roman Thrillerelemente mit den Elementen eines Krimis, wenn es um die polizeilichen Ermittlungen durch Hauptkommissarin Sigrid Odegard und ihren Kollegen Petter geht. Es ist eine Road Novel in der Beschreibung der abenteuerlichen Flucht des alten Mannes mit dem Kind “Paul” mit Hilfe eines gestohlenen Bootes, Traktors und per Anhalter. Es ist ein Stück anspruchsvolle Literatur in der Darstellung von Alter, Hinfälligkeit und familiären oder freundschaftlichen Beziehungen. Das Flucht- und Verfolgungsmotiv sorgt für Tempo, die sorgfältige Charakterisierung des alten Mannes mit seinen Erinnerungen und Visionen gibt dem Roman Substanz und Tiefe. Sheldon Horowitz ist keineswegs dement, auch wenn seine verstorbene Frau Mabel dies glaubte, weil er Jahrzehnte nach dem Krieg von seiner Teilnahme an Kampfhandlungen erzählen wollte. Ihrer Meinung nach hatte er den Krieg in einer Schreibstube ausgesessen. Die Organisation der Flucht und der Schluss zeigen, dass er nichts von dem vergessen hat, was sein Ausbilder ihm als jungem Marine beigebracht hatte und noch immer in der Lage ist, sehr zielgerichtet zu agieren. Für Sheldon sind seine überaus präzisen Erinnerungen nicht die Trugbilder eines alternden Verstandes. Wer keine Zukunft mehr hat, konzentriert sich auf Gegenwart und Vergangenheit. Die Klarheit der Erinnerung an lang Zurückliegendes ist ein letztes Geschenk vor dem Vergessen (S. 345)

Der Autor wählt eine anspruchsvolle Erzählstruktur für seinen Roman, der wechselnde Erzählperspektiven mit einer Vielzahl von Rückblenden kombiniert. Sheldon erinnert sich an seine Frau Mabel und seinen Sohn Saul, an seine Tätigkeit als Uhrmacher und als Fotograf, an seinen Einsatz im Koreakrieg, an den Vietnamkrieg, in dem sein Sohn Saul umkam. Er hat seinen Tod nie verwunden. Ihn quälen Schuldgefühle, weil er seinem Sohn die eigene patriotische Gesinnung eingeimpft und ihn dazu gedrängt hat, sich freiwillig zu melden. Schuldig fühlt er sich auch wegen der Dinge, die er selbst im Krieg getan hat und glaubt, dass ihn noch immer Koreaner verfolgen, um sich zu rächen. In der letzten Phase seines Lebens geht es ihm vor allem um Buße für seine Schuld und Erlösung - ein Leben für ein Leben, die Rettung des Jungen eine Form von Wiedergutmachung.

Der Autor verarbeitet eine Vielzahl von Themen in seiner Geschichte: Judentum und jüdische Identität in einem nicht-jüdischen Land, norwegische Kollaboration mit den Nazis, drei Kriege - neben dem Korea- und dem Vietnamkrieg kommt auch der Kosovo-Konflikt mit seinen Massakern zur Sprache - norwegische Immigrationspolitik, organisiertes Verbrechen, Altern, Demenz und Tod. Dennoch gelingt ihm ein spannender, sehr lesenswerter Roman, der vor allem von der zentralen Figur des Sheldon Horowitz auf seiner letzten Mission lebt. Es gibt neben ernsten und schrecklichen Dingen auch viele humorvolle Passagen, die eine Art Comic Relief-Funktion haben, damit die dunklen Elemente nicht überwiegen. Mir hat Millers Romanerstling sehr gut gefallen.