Emotion ohne Kitsch

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alasca Avatar

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Piombino, ein Industriestandort an der Adria, gleicht in nichts dem Bella Italia, das man sich gemeinhin vorstellt. Im Gegenteil: Das Stahlwerk Lucchini beherrscht die Landschaft und die Menschen. Nur dort gibt es für die Männer in der Region Arbeit, und es ist harte, eintönige und gefährliche Arbeit.

 

Es sind Männer wie Cristiano, der erst 23 ist und schon seit sieben Jahren im Stahlwerk arbeitet und dessen Wochenendvergnügen eine schäbige Tabledance Bar ist, oder Eduardo, der seine Tochter mit dem Fernglas am Strand beobachtet, oder Arturo, der sich auf gefährliche Geschäfte einlässt und untertauchen muss, oder Alessio, der seinen Job auf dem Laufkran nur mit einer Linie Koks erträgt, das er mit gestohlenem Kupfer finanziert. Sie alle wohnen in den schäbigen Mietskasernen an der Via Stalingrado, mit Blick aufs Meer und die Insel Elba vier Kilometer vor der Küste, auf der alles schön und jeder reich ist. Die Autorin versteht es, ihre Perspektivlosigkeit darzustellen, ihre Verzweiflung, ihren Hang zu Drogen, ihre Nähe zur Kriminalität, ihren Ehrenkodex. Die Ehefrauen versuchen, den Alltag trotz ihrer Männer, nicht mit ihnen zu bewältigen. Frauen haben es schwer in dieser Gesellschaft  – es sei denn, ihre Schönheit verleiht ihnen Macht.

 

Die geheimen Königinnen des Strandes vor der Via Stalingrado sind Francesca und Anna – dunkel die eine, blond die andere, beide gerade dreizehn und außergewöhnlich schön und lebenslustig. Das Äußere ist es, das die Rangordnung in der Via Stalingrado bestimmt – die Schönheit regiert, und die anderen sind die „Loser“, die keines Blickes gewürdigt werden.

 

Alles ist krass in diesem Roman: Die Familienverhältnisse; die Klassentrennung; die Art, wie, ungebremst durch Intellekt, das biologische Programm abläuft; die bedrohliche Welt der Stahlindustrie. Man meint die Hitze zu spüren, die sexuelle Schwüle, die über allem liegt, die Präsenz der Stahlöfen, ihre giftigen Emissionen. Man hat die Hässlichkeit der Szenerie vor Augen. Alles ist sehr körperlich, und die Autorin versteht es, das fühlbar zu machen. Ihre Sprache ist oft überbordend, verwendet viele Adjektive und Redundanzen, ist manchmal abrupt und sprunghaft, vermischt immer wieder Innen- und Außenwelt der Protagonisten und bringt einen ganz nah an das Erleben der Charaktere heran. Die Wahrnehmung der Autorin ist kristallklar und illusionslos, sie zeigt uns diese Welt, ohne zu werten. Dabei ist der Text gut lesbar, die Figuren psychologisch stimmig, die Dialoge authentisch und lebendig.

 

Ich habe auch weder Handlung noch Spannung vermisst, im Gegenteil, ich fand, es geschah ungeheuer viel. Die ganze Zeit habe ich um die beiden Mädchen gebangt - Anna, bei der die familiären Voraussetzungen nicht gar so prekär sind, träumt immerhin von einer Karriere als Politikerin, die „alles retten“ will, aber Francesca, deren Vater seine inzestuösen Neigungen durch Gewalttätigkeit kompensiert, ist ganz ohne Ehrgeiz und kann sich keine andere Art der Rettung vorstellen als eins der schönen, sprachlosen Mädchen zu werden, die im italienischen Fernsehen „Karriere“ machen. Und als Anna mit Mattia zusammenkommt, fühlt Francesca sich im Stich gelassen und entscheidet sich für einen Weg, der, wie man fürchten muss, nur ins Aus führen kann. Ab dem Moment, in dem sich die Mädchen entzweien, spitzt sich alles zu.

 

Werden sich die beiden wieder versöhnen? Wird es ihnen gelingen, ihre sexuelle und gesellschaftliche Konditionierung zu überwinden? Und da ist auch noch die (hoffnungslose?) Liebe zwischen Alessio und Elena. Und die Emanzipationsgeschichte von Lisa, eine der „Loserinnen“. Das Buch hat kein rundes Ende – alles hat sich verändert in diesem Jahr, durch das wir die beiden Mädchen begleiten, aber immer noch kann alles geschehen.

 

Ein hochemotionaler Roman, der ohne jeden Kitsch auskommt, leidenschaftlich, sinnlich, ehrlich – ich konnte mich seiner intensiven Stimmung nicht entziehen und habe ihn viel zu schnell ausgelesen. Tolle Literatur abseits vom Mainstream.