Stahl

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buecherfan.wit Avatar

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 Die dreizehnjährigen Freundinnen Anna und Francesca leben in dem kleinen Küstenort Piombino gegenüber der Insel Elba. Das Leben in Piombino wird geprägt von dem einstmals riesigen Stahlwerk Lucchini. Die Fabrik ist noch immer der wichtigste Arbeitgeber am Ort, doch sie ist weit von ihrer früheren Blütezeit entfernt. Die nicht mehr benötigten Industrieanlagen verfallen oder wurden zerstört.

Der russische Investor plant, Teile der Produktion auszulagern. Das bedeutet den Verlust von Arbeitsplätzen und einen weiteren Niedergang der Region. Schon jetzt ist das Leben für die Arbeiter und ihre Familien hart. Die Arbeit ist gefährlich, es gibt häufig Unfälle, auch tödliche. Die Familien wohnen in hässlichen Mietskasernen. Es gibt nicht viel Abwechslung, nur den verschmutzten Strand, die Bar und das etwas anrüchige Lokal Gilda im Nachbarort Follonica. Viele, vor allem die jüngeren, träumen davon wegzugehen, ein anderes besseres Leben zu führen. Die wenigsten werden es schaffen. Das bessere Leben bleibt für sie so unerreichbar wie das Urlauberparadies Elba, in Sichtweite und doch so fern.

Auch in den Familien der Mädchen gibt es große Probleme. Die Ehefrauen sind unzufrieden in ihren Ehen, frühzeitig gealtert, ihrer Illusionen beraubt. In Annas Familie gibt es finanzielle Probleme, weil der Vater gerade beim Diebstahl erwischt worden ist und seinen Job verloren hat. Außerdem verspielt er regelmäßig seinen Lohn. Francesca und ihre Mutter Rosa leiden unter dem gewalttätigen Vater Enrico, der seine heranwachsende Tochter stundenlang durch das Fernglas beobachtet und sich dabei ein bisschen zu sehr für ihren schönen Körper interessiert. Er will sie kontrollieren, verhindern, dass sie sich mit den Jungen des Ortes einlässt. Beide Mädchen sehen ungewöhnlich attraktiv aus und genießen die Wirkung, die sie auf das andere Geschlecht haben. Sie lieben es zu provozieren.

Doch dann wird ihre Freundschaft, die für immer sein sollte, auf eine harte Probe gestellt. Die frühreife Anna beginnt eine Beziehung mit Mattia, einem Freund ihres zehn Jahre älteren Bruders Alessio. Francesca ist eifersüchtig, fühlt sich verraten von der Freundin, die sie über alles liebt. Sie macht Lisa, das hässlichste Mädchen der Siedlung, das außerdem noch eine todkranke Schwester hat, zu ihrer Freundin und geht ihren eigenen Weg, um sich von ihrem Kummer und den katastrophalen häuslichen Verhältnissen abzulenken. Es muss eine Menge passieren, ehe eine Annäherung wieder möglich scheint.

Die Geschichte erstreckt sich über eine Zeitspanne von etwas über einem Jahr, dem ersten heißen Sommer, in dem die Mädchen 14 werden bis zum Beginn des folgenden Sommers, ein Jahr, in dem sich so viel verändert hat - im Leben der Mädchen und in ihrem Familien. Der Roman ist jedoch nicht nur das sensible Porträt von zwei Heranwachsenden, ihrer Freundschaft, erster Liebe und Konflikten und Schicksalsschlägen in ihren Familien, die Autorin hat auch ein deutliches sozialkritisches Anliegen, wenn sie die harten Lebensbedingungen der Stahlarbeiter beschreibt, die Gefährlichkeit ihrer Arbeit für Leib und Leben, ihre prekäre materielle Situation, die Annas Vater Arturo dubiosen Geschäften nachgehen lässt - an einer Stelle wird er als der Pate von Piombino bezeichnet - und die jungen Männer dazu bringt, Kupfer zu stehlen und auf dem Schwarzmarkt zu Geld zu machen. In einem Abschnitt ziemlich zu Beginn des Romans bringt Silvia Avallone die ganze Tristesse dieses Lebens auf den Punkt: “Was bedeutet es, in einem Komplex aus vier Mietskasernen zu wohnen, in dem es Balkon- und Asbeststücke regnet, in einem Hof, in dem die Kinder neben dealenden Jungen und stinkenden alten Frauen spielen? Was für ein Weltbild bekommst du an einem Ort, wo es normal ist, nicht in Urlaub zu fahren, nicht ins Kino zu gehen, nichts von der Welt zu wissen, nicht die Zeitung durchzublättern, keine Bücher zu lesen und das alles in Ordnung zu finden?” (S. 39).

Obwohl in diesem Roman schreckliche, schockierende Dinge passieren, gibt es am Ende einen Hoffnungsschimmer, wenn Annas Mutter den Mädchen vorschlägt, für einen Tagesausflug die Fähre nach Elba zu nehmen. Elba, das ist die Metapher für das schöne Leben, und wenn auf einmal dieser Ausflug möglich ist, warum dann nicht auch die Wendung zum Besseren im Leben von Anna und Francesca?

“Sommer aus Stahl” ist der erstaunliche Debütroman einer erst sechsundzwanzigjährigen Autorin, eine faszinierende Geschichte, die ich Lesern mit der entsprechenden Textsensibilität empfehle, Lesern also, denen es nicht auf oberflächliche Spannung und Handlungsfülle ankommt.