Identität und Herkunft im Nunez-Sound

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Sigrid Nunez hat diesmal eine eindeutig autobiografische Geschichte in vier Kapiteln, vier wichtigen Lebensstationen, vorgelegt: Vater - Mutter - Berufstraum - Liebhaber. Ein erstes Memoir also, wie es nur die Amerikaner*innen, und Nunez im Besonderen, können: melancholisch, analytisch, philosophisch, dabei menschelnd und fast immer schonungslos offen.

Der typische Nunez-Sound, ihr besonderer Erzählklang, ist schon spürbar, wenn vlt auch sprachlich dieses Debüt nicht ganz an die letzten Werke heranreicht, denn die besondere Atmosphäre, die Nunez mit ihrer Sprache schaffen kann, ist noch nicht durchgängig spürbar. (Evtl. liegt das auch an der deutlichen Einteilung in vier Abschnitte.)

Es geht diesmal um ihre Kindheit, um Herkunft, um Immigration und die Eltern, um das Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturen, um das besondere „psychische Familienerbe“ und den Weg zum Erwachsenwerden. Um Identität und was einen prägt, am Ende ausmacht.
Die Beziehungen zu den Eltern sind dabei herausragend geschildert, insbesondere die zur deutschen Mutter. Sie sind nachvollziehbar, sehr bildhaft und charakterisierend, gleichermaßen schonungslos wie respektvoll.

Es wird sofort greifbar, was die Vergangenheit der Erwachsenen und ein innerfamiliärer Kulturenmix für Kinder bedeuten, und wie eine derart belesene Autorin wie Nunez ohne bildungsbürgerlichen Hintergrund dennoch einen Weg aus ihrer Herkunft herausgefunden hat. Das Kapitel über ihre Affäre „Vadim“ zeigt dabei, wie anders solche Entwicklungen auch verlaufen können. Während wohlmeinende Freundinnen vermuten, dass die Ich-Erzählerin hier dem „Gangster-Charme“ eines gutaussehenden Mannes erliegt, ist ihr selbst sehr klar, dass es durchaus Gemeinsamkeiten gibt, warum sie sich mit diesem „Exoten“ versteht. Als Leser*in die verschiedenen Lebens-Stationen mitzubegleiten, ist einfach bis zum Ende spannend.

Kritik: Wer einen autobiografischen Text einer Lieblingsautorin zu lesen bekommt, will wahrscheinlich immer auch wissen, wie es nun zum Berufsweg der Schreiberin kam. Ich war schon überrascht, dass Nunez hier nur von ihrer frühen Faszination vom Ballett berichtet - die „Feder auf dem Atem Gottes.“ Das hat mich doch etwas enttäuscht. Auch mehr zum Lesen hätte ich erwartet, denn sie muss ja eine passionierte Leserin sein.
Abgesehen von meinen eigenen Erwartungen gibt es noch einen kleinen Einwand bezüglich ihrer Darstellung der Ballett-Welt: sie meint es nicht so, sie schildert ihre eigene Unbedarftheit, denke ich, aber ich fand die Anmerkungen zur Berufskrankheit Magersucht hier stellenweise zu verharmlosend, bis hin zur Nennung von Abführ-Methoden. Das war mir schlicht zu viel.

Fazit: Erneut und auch schon in diesem Debüt war Nunez eine lohnende Lektüre, die mit einem ganz besonderen Schreibstil aufwartet. Ihre Spezialität ist das Wissenwollen, das schonungslose Durchdringen, das aber nie verstört, sondern immer einen angenehmen Lesesog schafft, der Hunger auf mehr macht. Ich kann auch ihre anderen, neu ins Deutsche übersetzen Memoirs/Romane durchgehend empfehlen.