Vater, Mutter, Tochter

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Nachdem die amerikanische Autorin Sigrid Nunez mit ihren beiden Büchern „Der Freund“ und „ Was fehlt dir“ auch in Deutschland bekannt und erfolgreich wurde, hat sich der Aufbau- Verlag entschieden, ihren bereits 1995 erschienenen Debut- Roman in einer Neu- Übersetzung von Anette Grube herauszugeben.
Setzt sie sich in den beiden oben erwähnten Büchern v.a. mit dem Tod und mit dem Thema Freundschaft auseinander, so geht sie in „ Wie eine Feder auf dem Atem Gottes“ zurück in ihre Kindheit und Jugend in New York.
Der Roman gliedert sich in vier Teile.
Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Vater, einem in Panama geborenen Halbchinesen. Da der Vater ein großer Schweiger war, stammen die wichtigsten Informationen über ihn von ihrer Mutter. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er in Frankreich und Deutschland und lernte als Besatzungssoldat die 18jährige Christa kennen. Mit Frau und Tochter geht es zurück in die USA. Hier wird er unermüdlich in schlecht verdienenden Jobs arbeiten, um seine Familie durchzubringen. Die Tochter findet keinen Zugang zu dem schweigsamen Mann. Er wird bis an sein Lebensende kaum richtig Englisch sprechen können. Sie liest Pearl S. Bucks Roman „ Die gute Erde“, um so vielleicht mehr über seine chinesische Wurzeln zu erfahren.
Im zweiten Teil geht es um das problematische Verhältnis zur Mutter. Diese war eine schwierige, ewig unzufriedene Frau. Nie hat sie sich in der neuen Heimat wohlgefühlt, träumte immer von einer Rückkehr nach Deutschland, wohl wissend, dass es das Deutschland ihrer Kindheit und Jugend nicht mehr gab. Die Ehe der Eltern, zwei so ungleicher Menschen, war nicht glücklich. Das spürten natürlich auch die beiden Töchter.
Mit zwölf Jahren entflieht die Autorin dem erdrückenden Zuhause in die Welt des Balletts. Sie träumt davon, eine Ballerina zu sein. Davon erzählt der dritte Teil des Romans. Obwohl sie die nötige Disziplin und Härte aufbringt, die das Training erfordert, hat sie zu spät damit begonnen , um wirklich erfolgreich in diesem Metier zu werden. Aber auch das Scheitern ist eine wichtige Etappe auf dem Lebensweg. In diesem Kapitel fällt der Satz, der dem Buch den Titel gab. Jede Ballerina wünscht sich, leicht wie eine Feder zu sein, „ eine Feder auf dem Atem Gottes“, ein Zitat Hildegard von Bingens.
Im letzten Teil schreibt Sigrid Nunez ehrlich und offen über ihre leidenschaftliche Beziehung zu dem russischen Einwanderer Vadim. Er ist Schüler in ihrem Englischkurs für Ausländer und wird bald der Beste in der Klasse . Seine Wildheit und Furchtlosigkeit faszinieren sie, doch er bleibt eine kurze Affäre. Zu unterschiedlich sind das Milieu und die Wertevorstellungen der Beiden; hier die junge, aufstrebende Amerikanerin, da der kleinkriminelle Macho aus Russland.
Sigrid Nunez greift in ihrem Debut verschiedene Themen auf. Es geht um Identität und Zugehörigkeit, um das Leben zwischen den Kulturen, um Sprache und Sprachlosigkeit.
Gerade bei ihren Eltern hat die Autorin erlebt, welche Folgen das Fehlen einer gemeinsamen Sprache hat. Eine Kommunikation und damit ein befriedigendes Zusammenleben ist nicht möglich. Vadim dagegen lernt eifrig Englisch, um seine Lehrerin zu verführen. Und ihre privaten Gespräche sind oft eine Weiterführung des Unterrichts.
In Sigrid Nunez‘ Erstling zeichnet sich schon ab, was in ihren späteren Büchern noch ausgeprägter sein wird. Sie belässt es nicht bei der Schilderung ihrer Erlebnisse, sondern viele Begegnungen und Beobachtungen werden Anlass zur Reflexion. So erlebt sie z.B. ihren Vater bei einem der seltenen Treffen mit anderen Chinesen. Hier zeigt sich der ansonsten stumme Mann als äußerst redselig. Und sie fragt sich später, ob sein Schweigen nicht darin begründet lag, dass ihm niemand zuhören wollte.
Im dritten Kapitel stellt sie z.B. Überlegungen an zum Thema Schmerzen oder zum Zusammenhang zwischen Ballett und Sexualität.
Sigrid Nunez schreibt episodenhaft, ihre Sprache ist klar und präzise, der Ton leicht, trotz der melancholischen Grundstimmung. Die Figuren kommen einem nahe, auch wenn man ihre Handlungen nicht immer versteht. Sigrid Nunez nähert sich in diesem Buch, aufrichtig und reflektiert, ihren Eltern und ihrem jüngeren Ich an. Das berührt und lässt Raum für eigene Überlegungen .
Schon in ihrem Debut zeigt sich das literarische Können der Autorin.
Ein kluges Buch, das ich gerne gelesen habe und weiterempfehle.