Anstandsregeln

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 Amor Towles´ Debütroman “Eine Frage der Höflichkeit” ist das stimmungsvolle Porträt einer Epoche - der Zeit nach dem Börsenkrach von 1929 bis in die frühen 40er Jahre - , eine Liebeserklärung an eine Stadt - New York - und die Geschichte einer Liebe, die mehr versäumt als gelebt wird.

Im Vorspann begegnen wir Ich-Erzählerin Katherine, die mit ihrem Mann Val am Abend des 4. Oktober 1966 die Eröffnung einer Fotoausstellung im Museum of Modern Art besucht. Es handelt sich um die Porträts, die der Fotograf Walker Evans in den späten Dreißigerjahren mit versteckter Kamera in der New Yorker Subway gemacht hat. Auf zwei Bildern aus den Jahren 1938 und 1939 entdeckt sie jemanden, den sie kennt: Tinker Grey. Auf dem einen Foto sieht er gepflegt und elegant aus, auf dem anderen schmutzig, abgemagert und verarmt. Katherine weiß, wie alles zusammenhängt, aber sie hat ihrem Mann nie von dieser Zeit erzählt, auch nicht, wie sie zu Tinker Grey stand. Bei Katherine lösen die Fotos eine starke Reaktion aus, und sie wird von Erinnerungen überflutet. Diese Erinnerungen sind Thema des Romans, in dem in einer langen Rückblende über diese fast 30 Jahre zurückliegende Zeit berichtet wird. Schwerpunkt ist dabei das Jahr 1938 -1939.

Das erste Kapitel beginnt mit dem Sylvesterabend 1937. Katherine Kontent und ihre Freundin Eve Ross - eine schöne junge Frau aus dem Mittleren Westen - besuchen einen Jazzclub und lernen dort Theodore Grey genannt Tinker kennen. Tinker Grey sieht sehr gut aus, ist Single und verfügt über die Insignien des Reichtums: eleganter Kaschmirmantel, goldenes Feuerzeug und die richtige Adresse in New York: 211 Central Park West. Die drei werden unzertrennliche Freunde. Die beiden jungen Frauen führen Tinker Grey in ihre Welt ein, indem sie ihm zeigen, wie man sich ohne Geld bestens amüsiert. Er zeigt ihnen die Welt der Reichen und Schönen, eine Welt, zu der Katherine und Eve unbedingt gehören wollen. Ein Unfall, bei dem Eve schwer verletzt wird, beendet ihr unbeschwertes Leben. Tinker fühlt sich schuldig und nimmt Eve bei sich auf. Die beiden werden ein Paar. Katherine ist wieder auf sich selbst gestellt. Sie sucht sich einen neuen Freundeskreis und verfolgt zielstrebig ihre Karriere.

Der Roman zeigt die großen sozialen Unterschiede. Es gibt die vielen, die durch die Weltwirtschaftskrise alles verloren haben, und die anderen, die noch immer unermesslich reich sind und sich jeden Luxus gönnen. Auch Zeitgeschichtliches spielt eine gewisse Rolle, weil sich junge Männer aus dem Freundeskreis freiwillig melden: da sind der Spanische Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg mit Pearl Harbour sowie der wirtschaftliche Aufschwung nach der Depression.

Im Zentrum des Romans steht allerdings die Figur des Tinker Grey und sein Verhältnis zu seinen Freunden, seinem Bruder und zu den Frauen. Der Titel des Romans nimmt Bezug auf seine persönliche Bibel, die 110 Höflichkeitsregeln des jungen George Washington (Rules of Civility), die Tinker Grey verinnerlicht hat. Er hat erkannt, dass man sich in den obersten gesellschaftlichen Schichten nur mit perfektem Benehmen behaupten kann. Katherine liebt Tinker, obwohl sie sich das lange Zeit nicht eingesteht, und er scheint sie zu lieben, obwohl er sich für die Freundin entscheidet. Es gehört zu Katherines schmerzlichsten Erkenntnissen, dass Tinker Grey nicht das ist, was er zu sein scheint.

Durch die Konfrontation mit den Fotos wird Katherine noch einmal gezwungen, sich mit den damaligen Entscheidungen auseinander zu setzen. Sie begreift, dass sie auch für die richtigen Entscheidungen in ihrem Leben einen Preis zu zahlen hatte, dass sie Verluste hinnehmen musste, die viele Jahre geschmerzt haben. Dieser Teil des Romans - die Geschichte einer weitgehend ungelebten Liebe - berührt am meisten in diesem sprachlich anspruchsvollen, sehr gut lesbaren Gesellschaftsroman.