Sehr beeindruckend

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Auch als erwachsene Leserin, die sich schon viel mit dem Thema der Judenverfolgung beschäftigt hat, ist das Jugendbuch „Eine Insel im Meer“ von Annika Thor ein nachhaltiges Leseerlebnis gewesen. Bewundernswert ist es, wie der Autorin die Anlage der Figur der Steffi gelingt, einem jungen jüdischen Mädchen aus Wien, das im Jahr 1939 mit ihrer kleinen Schwester von den Eltern nach Schweden geschickt wird, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Das Schicksal des Mädchens und auch das, was ihr auf der Insel widerfährt, geht wirklich zu Herzen. Denn sie erwartet kein Idyll, wie man es aus den Romanen von Astrid Lindgren kennt. Sie hat auch auf dieser Insel im Meer nicht nur mit Heimweh zu kämpfen, sondern ihre Erfahrungen reichen vom Unglauben, den man dem Schicksal der Juden in Deutschland und Österreich entgegenbringt, über die Gefühl der Hilflosigkeit und Fremdheit, gepaart mit der Sehnsucht nach der Heimat und den Eltern, bis hin zu Ausgrenzung, Niedertracht und Hass, wie ihn am offensten, wenn auch am unreflektiertesten die Gleichaltrigen äußern. Somit ist die Insel in mehrfacher Hinsicht ein Sinnbild für Isolation. Zum einen zeigt sie, wie gefangen sich Steffi fühlt und wie hilflos sie dem Schicksal ausgeliefert ist, dass die Erwachsenen im Großen (Politischen) wie im Kleinen (Familiären) über sie verhängt haben. Aber auch die Bewohner der Insel sind wie isoliert vom Weltgeschehen. Zwar dringen Schreckensnachrichten vom näher rückenden Krieg an ihre Ohren, aber ein Verständnis gibt es kaum. Sehr gelungen macht die Autorin am Unterschied der beiden Schwestern deutlich, wie anders sich die Erfahrungen in der Fremde gestalten können. Ihrer jüngeren Schwester erscheint alles leicht, ihr fliegen die Herzen zu, sie lernt schnell, sich anzupassen und die Sprache zu sprechen. So schnell, dass sie die Ziehmutter bald Mama nennt und mit Steffi Schwedisch statt Deutsch spricht, weil es für sie schöner klingt. Steffi dagegen tut sich schwer und ihr wird es schwer gemacht. Sie hat die Bürde, auf die kleine Schwester aufzupassen, aber auch das Erbe ihrer Wurzeln zu bewahren. Sie kann und will ihre Identität nicht einfach abstreifen. Sie hat Träume und ein Leben, die sie mit der Flucht noch nicht ganz hinter sich gelassen hat, die zu erreichen aber in weite Ferne gerückt ist. Und das, ohne dass Steffi versteht, warum eigentlich: Was hat sie getan? Was macht sie so anders? Warum hat sie das verdient oder eben gerade nicht verdient? Das Buch hat hoch emotionale Szenen, die dem Leser den Hals zuschnüren und das Herz schwer machen, wenn Steffi sich z. B. über das gefrorene Eis auf den Weg zum Festland macht, weil niemand bereit zu sein scheint, ihre Eltern vor dem zu retten, was ihnen in Österreich blüht, sich aber auf der Insel niemand vorstellen kann. Oder auch wenn in den Erinnerungen der Kinder schreckliche Szenen aus ihrem Alltag in Wien unter den Nazis und der beginnenden Schikane gegen die Juden auftauchen. Dagegen vermag das Buch aber auch das Glück der kleinen Dinge setzen, wie ein Tuschkasten vom guten Onkel Everet, ein Schneelicht, ein Fahrrad oder ein roter Badeanzug mit weißen Punkten. In der Kargheit und Einfachheit dieses Lebens auf der Insel, gerade in der Winterzeit, strömt etwas Beruhigendes aus. Und das ist wie Balsam, der sich auf die Seele legt, wenn sie schmerzlich berührt wird von dem, was Steffi widerfährt. Das Buch zeigt Unmenschliches und Menschliches und ist somit auch für jüngere Leser geeignet, die an ein schwieriges Thema herangeführt, und nicht in Watte gepackt, aber auch nicht allein und ungetröstet gelassen werden.
Zu einem kleinen Schatz lassen auch die wunderbaren Zeichnungen von Sabine Wilharm das Buch werden, die die stimmungsvollsten Momente gekonnt einfangen – im Guten wie im Schlechten. Eine Lektüre, die den Leser nachhaltig beeindruckt, die Erinnerung wach hält und so viel mehr vermittelt als ein Stück Zeitgeschichte: es geht dabei immer um (ein) Menschenleben.