Berührend und tragisch

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bluevanmeer Avatar

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Selten hat mich ein Buch so bewegt, wie der neue Roman von Kristina Bilkau. Das Thema ist schon nicht leicht: nach dem Tod der eigenen Mutter räumt die Erzählerin die Wohnung aus und findet alte Liebesbriefe. Sie entdeckt, dass ihre Mutter einen Liebhaber gehabt hat und beginnt alte Tagebücher zu lesen, in denen ihre Mutter Antonia sich in Edgar verliebt. Die größte Liebe ihres Lebens. "Toni" ist verträumt, erwartet viel vom Leben, wünscht sich, nach Paris zu gehen und lernt Edgar kennen, der ihr diese Wünsche erfüllen kann. In einer Zeit, als junge Singlefrauen noch argwöhnisch von Vermieterinnen beäugt wurden und Antonia beim Frauenarzt vergeblich darum bittet, die Pille verschrieben zu bekommen (erst ab 30 und für verheiratete Frauen), findet die Liebe der beiden in Gedanken und Briefen statt und wird irgendwann doch sehr körperlich. Toni entscheidet sich gegen das Kind und Edgar bekommt ein Jobangebot in Hongkong. Toni träumt vom Auswandern, aber Edgar wird sie nie ins Ausland nachholen. Und dann ist diese große Liebe auch schon wieder vorbei.Die Ich-Erzählerin begibt sich auf die Suche nach Edgar. Sie hat so viele Fragen.

Kristina Bilkau gelingt es meisterhaft ein Porträt einer Zeit zu zeichnen, in der zwar die moralische Strenge der 1950er gelockert wird, aber die sexuelle Befreiung der Frau noch lange nicht erreicht ist. Toni scheitert nicht nur an ihren großen Wünschen, sondern letztlich auch an gesellschaftlichen Erwartungen und man wird das Gefühl nicht los, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Umso erschreckender, welche Vorstellungen eines gelungenen Lebens noch bis vor einigen Jahren herrschten und wie vielen Erwartungen man, gerade als Frau, zu entsprechen hatte.

Die Ich-Erzählerin arrangiert ein Treffen mit Edgar und kann dabei den Gedanken nicht abschütteln, dass dieser Mensch unter anderen Umständen ihr Vater geworden wäre. Wie anders hätte ihre Familie sein können? Mich haben viele Überlegungen unglaublich getroffen, als ich dieses schmale Buch innerhalb weniger Tage gelesen habe. Und während die junge Toni so voller Träume und Hoffnungen ist, ist es umso tragischer zu lesen, dass sich die wenigsten Dinge erfüllen werden, die sie sich im Leben wünscht.

Brilkau erzählt nicht nur eine Geschichte über eine unglückliche Liebe, sondern auch über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, deren Intensität und Tiefe sich erst nach und nach entfaltet und die mich tief berührt hat. Erst nach dem Tod ihrer Mutter, gelingt es ihrer Tochter sie außerhalb ihres Familiengefüges als eigenen, ganz besonderen Menschen zu sehen, der sich sein Leben ganz anders vorgestellt hat. Auch viele Jahre nach dem Ende der Beziehung fährt Toni heimlich zum Haus von Edgars Eltern um zu sehen, ob er zu Besuch ist. Sie kann ihn nicht vergessen, wird nie sesshaft, führt ein chaotisches Leben. Ihre Tochter hat ihr dieses Chaos nie verzeihen können, aber versteht auch erst mit dem Tod der Mutter, dass sie die Chance vertan hat, nachzufragen, wie es wirklich damals gewesen ist. Und das hat mich sehr nachdenklich werden lassen.