Wer hat mich gefunden?

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Nach dem Tod ihrer Mutter lässt die Tochter das Leben Antonias Revue passieren. Vor allem die ganz große Liebe zu Edgar – den Grundstein für ihr späteres Leben. Zwei geschiedene Ehen, viele Umzüge, eine Tochter, die sich stets nach Beständigkeit gesehnt hat. Und sie sehnte sich „nach Toni und Edgar, nach ihrem Glück, nach ihrer gemeinsamen Zukunft, die es einmal gegeben hatte. Nach den beiden Menschen, die Toni und Edgar gewesen waren. Ich wünschte mir, diese Zeit der beiden von irgendwoher zurückholen zu können und meiner Mutter zurückgeben zu können. Wie ein verloren geglaubtes Schmuckstück, das immer vermisst und nie vergessen worden war. Hier, das habe ich für dich gefunden, es gehört dir.“

Die Tochter, die für den Leser namenlos bleibt, löst den ehemaligen Haushalt ihrer Mutter auf. Dabei stößt sie auf Spuren, die sie das Leben Antonias zusammen mit ihren eigenen Erinnerungsstücken aufleben und verarbeiten lassen. „[Ich] räumte [...] den Bücherschrank aus, nahm dieses Gebäude aus Gedanken und Erinnerungen, aus den vielen kleinen Indizien gelebter Momente auseinander.“ Dabei stößt sie „auf ein kleines Buch mit einem violetten, abgenutzten Umschlag [...] übersät mit Markierungen: "Fast ganz die Deine"; es war der innere Monolog einer jungen, lungenkranken Französin, die einige Zeit in einem Sanatorium verbringen musste, die dort einen Brief erhielt, von dem Mann, den sie liebte, den sie heiraten wollte, der ihr nun mitteilte, er würde sich von ihr trennen.“ Er ist Spiegel für Antonias eigene Gedanken und Gefühle: "Es ist zu Ende; Man hat nichts mehr zu erwarten und bleibt doch noch endlos so stehen, wohl wissend, daß nichts mehr kommen wird ... Nun haben Sie meinem Herzen so lange die bedingungslose Liebe abverlangt ... Sie sind fort, doch ich finde mich wieder und bin weniger allein als in jenen Tagen, da ich Sie suchte."

Neben Marcelle Sauvageots "Fast ganz die Deine" findet die Tochter einen Kunstband über die finnische Malerin Helene Schjerfbeck, zu der sie gerade als Innenarchitektin eine Ausstellung entwirft: „Eine Achtzehnjährige, die 1880 als junge Malerin mit einem Stipendium von Helsinki eine lange Reise mit Schiff und Bahn unternahm, um nach Paris zu kommen [...], die sich verliebte und doch nicht glücklich wurde. Die später in Finnland blieb [...]. Die ihr Leben lang aus den Jahren in Frankreich und England schöpfte, »ich begehre große, tiefe und wunderbare Dinge«, den Satz hatte ich gelesen und notiert. Sie malte Bilder von jungen Frauen mit eigenwilligem Anmut.“ Die Tochter stellt einen Vergleich zwischen ihrer Mutter und der Malerin auf, die ein unstetes, selbstbestimmtes, einsames Leben führte. "Ich möchte an meiner Straße am Fenster sitzen und glauben, dass jeder, der vorbeigeht, ein Leben hat, glücklich oder unglücklich, aber tief." „Und dann war meine Mutter es, die [...] zurückblickte auf ihr eigenes Leben, die sich bis zum Schluss von niemandem ihre Liebe hatte abwerten lassen, ihre angeblich so unheilbare, zwecklose, vergebliche und verschwendete Liebe.“

Die intertextuellen Bezüge zu Marcelle Sauvageots "Fast ganz die Deine" und den zitierten Aussagen der Malerin Helene Schjerfbeck verleihen dem Roman eine weitere, tiefe Dimension, die die Lebensgeschichte Antonias in eine universelle, zeit- und raumlose Lesart rücken. Der Roman „Eine Liebe, in Gedanken“ erzählt eine berührende, fesselnde Geschichte – einnehmend geschrieben in leichter poetischer Sprache ohne falsche Sentimentalitäten. Und er ist wie das Leben selbst – mit offen bleibenden Fragen, ohne eindeutige Antworten. Denn nicht die explizite Antwortfindung ist das entscheidende, es geht vielmehr darum, wie bestimmte Entscheidungen das Leben und die Persönlichkeit verändern können.