Was ist das Gegenteil von romantischer Liebe?

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Ruby verlässt London nach einer unangenehmen Beziehung um ihr „Jahr für mich“ zu starten: Ganz ohne Männer und mit der Erfüllung ihres großen Traums, dem Filmstudium. Als sie ihr Sofa verkauft, trifft sie auf Nic, der ebenfalls aus einer Beziehung kommt und in London neu starten möchte. Beide suchen einen Neuanfang, während sich ihr Leben in dieser einen Nacht überlappt. Doch Jackson, Rubys ehemaliger Mitbewohner, freundet sich mit Nic an, wodurch die beiden trotzdem immer mal wieder aufeinander treffen… denn eigentlich haben sie entschieden, dass die eine gemeinsam verbrachte Nacht ein One-Night-Stand bleiben soll…

Schon zu Beginn war ich überrascht, eher überrumpelt, dass die gemeinsame Nacht nicht einmal ein Viertel des Buches umfasst. Anhand Titel, Cover und Klappentext habe ich eher mit 3/4 dieser einen Nacht und 1/4 ob und wie die Beziehung eine Chance hat, gerechnet, stattdessen konzentriert sich das Buch vielmehr auf jeweils das neue Leben von Ruby und Nic, meistens getrennt, manchmal mit Berührungspunkte.

Auch die Romantik hat mir gefehlt, dafür war die Geschichte sexbezogener. Alles fängt mit dem One-Night-Stand von Ruby an, zu dem ihre beste Freundin sie gedrängt hat, da Ruby ein Jahr ohne plant. Außerdem haben ausnahmslos alle Charaktere einen sehr offenen und flexiblen Standpunkt dazu, wodurch zB Nics Bruder ihm mehr oder minder weiße Ratschläge gibt, dessen Gespräche aber eher ins vulgäre abdriften. Auch dass Ruby mit einem fast 100-jährigen über ihr Sexualleben und verkorkste Beziehung reden kann, ist mir zu übertrieben. Trotzdem kommen auch ernste Themen überraschenderweise nicht zu kurz. Ruby möchte sich aus einem bestimmten Grund das nächste Jahr nur auf sich selbst konzentrieren, was sich auf die gesamte (Liebes)Geschichte auswirkt. Leider sind ihre Gedanken und Gefühle dazu viel zu wenig und selten beschrieben. Es ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, aber überhaupt nicht im Fokus. Insgesamt sind auch viel zu viele Themen im Buch, die nur kurz angerissen oder auch mal unnötig aufgebauscht werden. Manches ist auch einfach konstruiert, zum Beispiel vom Zeitpunkt oder Klischee her. Weniger und dafür in die Tiefe gehend ist mehr.

"Das Herz ist ein Muskel – und wir müssen unsere Muskeln trainieren, damit sie stärker werden, sonst verkrampfen sie. Das Herz muss benutzt werden, oder wir riskieren, seine Leistungsfähigkeit zu verlieren." von JP

Auch wenn ich den 96-jährigen JP zu flapsig finde, weil ich mir neben all den ungezwungenen Charakteren mindestens einen bodenständigen gewünscht hätte, hat mich sein Teil der Geschichte am meisten überzeugt, weil sie romantisch und tragisch ist. Die Suche nach seiner alten Liebe wird Rubys Filmprojekt, weshalb er und sein Enkelsohn bald einen großen Teil des Buches einnehmen. In Interviews und informalen Treffen berichtet JP über sein Leben und seine große Liebe, die er nur kurz im Krieg getroffen hat. Die Suche und Auflösung nach dieser Frau hat mich so sehr berührt, dass ich sogar Tränen in den Augen hatte. Dass die Nebenhandlung mehr berührt als die eigentliche Liebesgeschichte, ist wirklich schade!

Der Schreibstil von Laura Williams ist flüssig zu lesen, trotzdem habe ich für die ca. 400 Seiten länger gebraucht als bei anderen Büchern, vielleicht lag es an den vielen Geschehnissen und Themen. Leider wurden nicht alle Gefühle beschrieben, aber wenn, konnte man die Charaktere gut nachvollziehen und mich manchmal auch berühren. Zum Beispiel konnte mich Ruby während der Anfangszeit ihres Studiums in ihrer Begeisterung total mitreißen. Entweder hat der Schreibstil nachgelassen oder die Übersetzung von Nadine Lipp gepatzt, da die gereimten Textnachrichten von Ruby und Nic mit der Zeit eben dies nicht mehr waren und sehr aufgesetzt geklungen haben. Auch einige Wortwiederholungen sind dabei, vulgäre Beschreibungen von Geschlechtsverkehr oder seltsame Umschreibungen des Geschehens, die ich nicht verstehen konnte, glücklicherweise aber für den Fortlauf der Geschichte unwichtig sind.


Fazit:
„Eine Nacht mit dir“ ist leider eine Enttäuschung. Du denkst, meine Rezension ist zu lang? Ohje, ich hab mich so bemüht all meine Kritikpunkte bezüglich Handlung, Charaktere, Schreibstil und Liebesgeschichte kurz und verständlich zu schildern. Die Geschichte handelt schon, anders als erwartet, nur zu einem geringen Teil um diese eine Nacht, ansonsten eher um die Bedeutung, die man der Liebe entgegenbringt: Ist mir die Liebe wichtig genug, um mit Ruby/Nic eine Beziehung einzugehen oder hat mein Ich derzeit mehr Bedeutung? Für den älteren Herrn im Buch ist seine kurze und große Liebe so bedeutsam, dass er sie nach jahrzehntelanger Trennung zu suchen beginnt, was das romantischste und am meisten berührende an diesem Buch ist.