Eine alleinerziehende Mutter in Zeiten des Umbruchs

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Wenn die erwachsenen Kinder ausziehen, beendet das auch für Eltern einen Lebensabschnitt, den Alleinerziehende gewiss noch einschneidender empfinden werden als Paare. Die Ich-Erzählerin lässt uns diesbezüglich teilhaben an ihrem Leben, an Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen, in denen sich viele gleichaltrige Leserinnen wiederfinden können. Für die Protagonistin erschwerend kommt hinzu, dass sie sich mit dem Auszug der Kinder ihre seit Jahren bewohnte Wohnung nicht mehr wird leisten können. Es stehen also tiefgreifende persönliche Veränderungen an.
„Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbsterhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern und Fotoalben.“ (S. 88)

Die Ich-Erzählerin ist also eine Mischung aus der Autorin selbst (die Parallelen sind offensichtlich) und einer fiktionalen Figur. Dieses Konstrukt bleibt für mich leider auf Distanz. Ich kann die namenlose Protagonistin schwer greifen. Sie stellt sich zwar selbst eindeutig in den Mittelpunkt, jedoch werden bedeutsame Erinnerungen (z.B. Abtreibung, „die Sache“, Trennungen) nur sehr oberflächlich behandelt. Immer, wenn es persönlich wird, muss man sich mit Andeutungen zufrieden geben, selten geht es ans Eingemachte – wahrscheinlich zum Schutz der Privatsphäre sowie der nächsten Angehörigen. Aus den Leerstellen ergibt sich aber auch Freiraum für eigene Reflektionen.

Die einzelnen Kapitel sind kurz. Doris Knecht ist eine brillante Erzählerin, deren Geschichten über Esprit verfügen. Gewiss kommt ihr ihre Erfahrung als Kolumnenschreiberin für verschiedene Zeitungen zu Gute. Während sich die Ich-Erzählerin in der Gegenwart mit Wohnungssuchen, Renovierungen und Umzug beschäftigen muss, gleiten ihre Gedanken immer wieder in die Vergangenheit ab, in die Zeit der eigenen Kindheit, in der sie sich in der Familie als Außenseiterin fühlte, dann zum eigenen Auszug, als sie das Bedürfnis hatte, möglichst weit weg vom Elternhaus zu kommen, bis hin zu Liebesbeziehungen, Freundschaften und Brüchen im Leben. Dabei gibt sie sich durchaus selbstkritisch: „Meine Mutter hat wahrscheinlich recht: Immer sehe ich die Dinge zu negativ. Oder besser: Ich sehe nur die negativen Dinge, wenn sie an meinem Erinnerungsstrand angespült werden aus einem Meer der Harmonie.“ (S. 84)

Das Ausräumen und Ordnen ihres Hausrats spült also Rückblicke ins Bewusstsein. In dem Zusammenhang erstellt sie auch die titelgebende Liste. Knechts Ton ist dabei meist leicht und locker mit nur geringer Larmoyanz. Die meisten Episoden lesen sich unterhaltsam. Immer wieder werden humorvolle, (selbst-)ironische oder nostalgische Szenen eingebaut, von denen man sich als Leserin angesprochen fühlt. Es werden alltägliche Begebenheiten literarisch gekonnt aufbereitet. Knecht versteht es, vielen der Erlebnisse eine gewisse Allgemeingültigkeit zu verleihen, indem sie Lebenserfahrung und -weisheit in eindrucksvolle, versonnene Formulierungen kleidet. Beispiele:
„Aber so ist das mit den eigenen Kindern: An jedem Tag, an dem sie älter werden, verliert man die, die man am Tag davor hatte. Manchmal vermisse ich sie.“ (S. 43)
„Die Erinnerungen an Moritz (…) befindet sich in einem der Erinnerungsräume, die ich schon lange nicht mehr betreten habe. Ein Abstellraum voller Zeug, das man nicht mehr besitzen möchte, aber nicht loswird.“ (S. 109)

Insgesamt halte ich „Die vollständige Liste aller Dinge …“ für einen empfehlenswerten Roman, der eine große Vielfalt an Gedanken aufgreift, die Eltern in der Lebensmitte (und darüber hinaus) beschäftigen dürften. Wahrscheinlich werden jedem Leser andere Episoden im Gedächtnis bleiben. Auch ich empfand deren Attraktivität unterschiedlich aufgrund der oben genannten Distanz zur Hauptfigur. Durchweg angetan bin ich allerdings vom stilistischen Können der Autorin. Sprachlich empfinde ich ihren Text als ausgefeilt und sehr versiert, so dass ich mich weiterhin neugierig mit ihrem Werk beschäftigen werde.