Leider nicht mein Buch

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fraedherike Avatar

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„Irgendwann muss man sagen: Hier bin ich jetzt. Das ist jetzt meins, ich bin angekommen, so ist es gut. “ (S. 212)

Alles wird anders sein, wenn die Kinder nicht mehr da sind. Und sie hasste es. Nicht, dass sie weg sein würden, das war schließlich nur eine Frage der Zeit gewesen, der Lauf der Dinge, aber die Veränderungen, die damit einhergehen, die hasste sie. Sie müsste sich einen Untermieter suchen – oder umziehen. Alleine konnte sie sich die große Wohnung nicht mehr leisten, zumal sie für sie alleine und den Hund eh zu groß wäre. Wie war das eigentlich damals, als sie auszog, in dieser anderen Zeit, als der Lebensweg als Frau von der Gesellschaft vorgeschrieben war, die drei Eckpfeiler Hochzeit, Haushalt, Kinder starr am Horizont. Sie beginnt zu schreiben: von ihrem Leben als junge Frau und alleinerziehende Mutter, ihrem Aufwachsen im Schatten von vier Schwestern, ihrem Fortgehen, von den Dingen, die sie geprägt haben und sie dorthin brachten, wo sie heute ist. Doch während sie ihre Erinnerungen ordnet, ihr altes Leben ausmistet und die Frau, die sie war und die Entscheidungen, die sie traf, zu verstehen versucht, darf sie ihr Leben in der Gegenwart – und in der Zukunft – nicht aus dem Blick verlieren.

„Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben. ... Nichts lässt sich beweisen, nicht, was ich tat, nicht, wie ich war, und schon gar nicht all die Dinge von früher, an die ich mich erinnere oder die ich zusammengedichtet habe, um eine Figur zu schaffe, die ich selbst interessant genug finde, um sie für erzählwürdig zu halten, und nicht so abstoßend, dass niemand etwas über sie erfahren, keiner mehr weiterlesen möchte.“ (S. 88f)

Letztens erst fragte ich meine Mama, wie es für sie war, als ich auszog. Nicht mehr meine Klamotten waschen, meine grummelige Stimmung am Morgen ertragen, meine Krümel in der Küche wegmachen zu müssen. Nun, zumindest war meine kleine Schwester noch da. So ganz leer war das Nest dann also doch noch nicht. Aber anders war es schon. Friedlicher sagte sie nicht, das dachte ich still für mich, das war es gewiss. Ich kenn‘ mich doch. Auch wenn die Erinnerung sicher auch eine Frage der Perspektive ist.
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Die Erinnerungen an ein Leben verändern sich im Laufe der Zeit, werden blasser, nehmen andere Gestalten an und manifestieren sich als diese Schatten im Gedächtnis, schreiben die Geschichte eines Lebens um. Doch letztlich ändert auch die Frage nach der Wahrhaftigkeit nichts mehr an dem Ist-Zustand, befindet die Protagonistin aus Doris Knechts neuem Roman „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, hat sie schließlich ganz andere Probleme: Sie muss eine neue Wohnung finden. Und sie muss sich daran gewöhnen, alleine zu wohnen. Mit Hund. In lakonischen, anekdotenhaften Kapiteln erzählt Knecht aus der Perspektive ihrer Protagonistin von ihren gegenwärtigen Aufgaben, von den Dingen, die sie ein Leben lang begleiteten und solchen, die sie verloren hat, von Zeiten in ihrem Leben, die sie veränderten und prägten, etwa einem gewalttätigen Exfreund, einer Abtreibung, der Geburt ihrer Zwillinge. Dem ersten Moment in ihrem Leben, in dem sie sich gesehen und umsorgt fühlte. Und flugs fallen gelassen wurde, als sie ihre Aufgabe als Gebärmaschine erledigt hatte, nur noch Hülle war (vgl. S. 141). Es sind immer wieder diese Momente, Schlagwörter eines Lebens, die sie zu umfassenderen Betrachtungen des Lebens und der Gesellschaft, ihrem Wandel mit den Jahren veranlasst, etwa dem gesellschaftlichen Blick auf die Rolle der Frau oder das Familienleben, die Immobilienpreise und das Leben als paradoxes Konstrukt. Dabei hinterfragt sie aber auch immer wieder ihr eigenes Verhalten und das Bild, das sie anhand ihrer Erinnerungen und Wahrnehmung weiterträgt.
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„Möglicherweise tut man den Kindern etwas Gutes, wenn man ihnen eine Rückkehr ins Kindersein, in den Mutterschoß so schwer wie möglich macht, vielleicht werden sie nur so erwachsen.“ (S. 23)
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Das klingt alles ja eigentlich ziemlich fein. Naja, ihr merkt schon, was ich damit sagen möchte. Wirklich übergesprungen ist der Funke nicht, ein bisschen warm wurde mir schon, aber das war es auch. Ich mochte den bilderbuchartigen Aufbau und die Interaktion zwischen der Protagonistin und ihren Kindern, den leicht ironischen Ton sehr, fand mich auch das ein oder andere Mal in Mila und Max wieder (und entschuldigte mich gedanklich bestimmt mehr als einmal bei meinen Eltern für alles, was sie mit mir ertragen mussten). Und: die Reflexion eines Lebens, die melancholischen Gedanken, die bestimmte Gegenstände, sei es der Tisch Modell Ingo oder die Sonnenbrille aus dem Urlaub, auslösen, die Geschichten und Erinnerungen, die daran hängen. Könnte mich den ganzen Tag lang nur in solchen Gedanken verlaufen, das macht ein ganz wohliges Kribbeln unter der Haut. Aber: die Protagonistin hat mich unendlich genervt. Ich verstehe ja, dass sie vor großen Veränderungen steht, dass das aufregend ist und auch und vor allem finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringt, aber es ändert auch nichts daran, wenn sie sich alle paar Seiten immer wieder darüber beklagt – zumal sie aber auch drei Immobilien besitzt, hä. Darüber hinaus hat für mich der Spannungsbogen gefehlt, plätschert die Geschichte so mehr oder weniger monoton vor sich hin, bis – das sollte kein Spoiler sein – die Kinder aus dem Haus, der Hund im Körbchen, die alte Wohnung verlassen ist. Einige Gedanken habe ich wirklich gerne weitergesponnen, auf mein Leben übertragen und in Frage gestellt, doch viel mehr konnte mir das Buch leider nicht geben. Schade!