Ungewöhnliche Sicht auf einen alt bekannten Stoff

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alekto Avatar

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Das Cover finde ich toll. Denn dieses bildet eine golden erstrahlende und somit hell leuchtende Elektra ab, was hervorragend zum Titel passt. Abgerundet wird dieser positive erste Eindruck von einem Vorwort, das der Elektra von Sophokles entnommen ist. Dieses Vorwort deutet es schon an. Das Drama um Elektra und ihrer Familie ist der Stoff, aus dem die Tragödien sind. So haben bereits in der Antike alle drei großen griechischen Tragödiendichter (neben Sophokles, dem heutzutage bekanntesten, auch Aischylos und Euripides) diesen der griechischen Mythologie entnommenen Stoff zu Dramen verarbeitet. Denn die alten Griechen haben den Wert eines Dramas und das Ausmaß einer Tragödie an deren Fallhöhe gemessen. Und die ist bei dieser Familiengeschichte maximal. Der Vater Agamemnon opfert die Tochter Iphigenie, um Krieg in Troja führen zu können. Iphigenies Mutter Klytämnestra ermordet den Vater nach seiner Rückkehr aus Troja, um den Mord an ihrer Tochter Iphigenie zu sühnen. Und deren einziger Sohn Orest wird von den Erinnyen gezwungen seine eigene Mutter zu töten, um den Mord an seinem Vater zu rächen.
Am Ansatz von Jennifer Saint gefällt mir nun ausgesprochen gut, dass sie diese Geschichte ausschließlich aus Frauensicht erzählt. Neben der Perspektive der Titel gebenden Elektra werden die Ereignisse auch als Sicht von Elektras Mutter Klytämnestra sowie der Seherin Kassandra geschildert. Das verleiht diesem bekannten Drama, das in den vergangenen Jahrhunderten schon in vielfältiger Weise bearbeitet wurde (u.a. in einer komplexen Oper von Strauss) einen ganz besonderen Touch. Für griechische Mythen interessiere ich mich sehr (wie schon mein Benutzername nahelegt, der für eine der Erinnyen steht). Und trotz deren patriarchal geprägter Erzählweise habe ich darin schon immer viele, an sich starke Frauenfiguren vermutet (z.B. die Göttin der Jagd Artemis oder auch die Bakchen im gleichnamigen Drama von Euripides). Wie Jennifer Saint diese Sichtweise nun mit Leben füllen wird, darauf bin ich schon sehr gespannt.
An der Leseprobe haben mich bislang Kassandras Kapitel am meisten angesprochen. Kassandra besitzt die eindrucksvolle Gabe, die Zukunft der Menschen sehen zu können. Das scheint auf den ersten Blick eine bewundernswerte, vielleicht sogar beneidenswerte Fähigkeit zu sein. Doch Jennifer Saint stellt Kassandra vor, indem sie mir gleich nahe gebracht hat, wie viel mehr Fluch als Segen diese Gabe doch ist, unter der Kassandra zu leiden hat. Im weiteren Verlauf bin ich auf Elektras Entwicklung gespannt. Bislang hat es nur einen Prolog aus Sicht von Elektra gegeben, in der sie als Tochter ihres Vaters Agamemnon eingeführt wurde, nach dessen Liebe sie sich sehnt und über dessen Zuneigung sie sich definiert. So wartet sie auf seine Rückkehr, die zum Ende des Prologs endlich erfolgt. Da dieser Roman als feministische Literatur angekündigt ist, gehe ich aber davon aus, dass Elektra noch eine erstaunliche Entwicklung durchmachen wird.