Unbedingt lesen!

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koschkosch Avatar

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Xavier Ireland ist so etwas wie der Domian Londons. Er ist Mitte dreißig und moderiert eine nächtliche Radiosendung, in der die Schlaflosen anrufen, um sich ihre Geschichten von der Seele zu reden. Er macht seinen Job gern und gut, aber oft bleibt durch seine Arbeit ein Teil seines eigenen Privatlebens auf der Strecke. Er fragt sich, warum er so wenig soziale Kontakte hat, wie er mit der Situation umgehen soll, dass ER schläft wenn andere arbeiten und ER arbeiten muss, während der Großteil der Menschen in London schläft. Und doch ist der Job für einen Teil von ihm so etwas wie Berufung.

So erfährt man als Leser dass Xavier schon immer erste Anlaufstelle für Menschen mit Problemen war, Watson beschreibt ihn als einen Menschen, der "sich immer die Sorgen des Taxifahrers anhören muss oder mitfühlend nickt, wenn ihm ein Fremder im Aufzug plötzlich wortreich das Herz ausschüttet." Die vielleicht hilfreichste Eigenschaft, die Xavier hat, ist aber seine Fähigkeit, an der richtigen Stelle zu schweigen und zuzuhören. Damit entspricht sein Job sozusagen seinem Naturell, auch schon, bevor er den Job beim Radio hatte, „als Xavier noch als Chris bekannt war“.

Dieses "vorher" ist schon ein Weilchen her. Nach und nach erfährt der Leser, dass Xavier eigentlich kein Londoner ist, sondern aus Australien kommt. Dort hatte er Freunde, seine große Liebe, sein Leben. Doch er ging fort, änderte seinen Namen und fing ein neues Leben an – in London beim Radio. Irgendetwas ist passiert, doch Xavier mag nicht dran denken, er gibt nichts von sich preis und lebt so vor sich hin, von Tag zu Tag. Sein alltägliches Leben scheint an ihm vorbeizulaufen. Dabei begegnet er Nachbarn, Bekannten, Kollegen – und scheint kein bisschen Nähe zu irgendjemandem aufbauen zu können.

So zum Beispiel auch enge Nachbarn wie die allein erziehende Mutter Mel mit ihrem Sohn Jamie, die zwar bei ihm im Haus wohnen, die er allerdings kaum kennt. Er nimmt sie wahr, doch mehr auch nicht. Watson versteht es, die Gedankenwelten der beteiligten Personen anzureißen und damit die Banalität und Oberflächlichkeit aufzuzeigen, mit denen sich die Menschen umgeben. Solche Begegnungen erzeugen beim Lesen einen faden Beigeschmack: Sie sind beklemmende, aber äußerst treffende Beschreibungen unserer Gesellschaft.

Der Leser wird Zeuge eines mehr oder weniger anonymen Lebens in London, gezeichnet durch kurze Begegnungen, krude Gedanken, Scham und unerfüllte Wünsche. Und eigentlich begleitet man nicht nur Xaviers Leben, sondern auch das der Menschen, die er trifft, deren Wege er kreuzt. Elf Menschen, elf Leben, die unwillkürlich miteinander verknüpft sind, auch wenn die Menschen dahinter sich nie begegnen werden. Alles hängt auf unwirkliche Weise zusammen.

Elf Leben erzählt uns eine traurige, aber auch lustige Geschichte – oder eben elf Geschichten, die sich irgendwo treffen. Mark Watson schafft es, feinfühlige Momente mit unheimlich treffenden Beobachtungen zu verknüpfen. Sein Buch ist mit Melancholie, mit Langeweile und mit vielen unerfüllten Sehnsüchten angereichert. Watson schafft es, die Entfremdung der Menschen in der Großstadt darzustellen, ohne übertrieben zu wirken oder gar konstruiert. Und auch das überraschende Ende passt in diese wunderbar leichte, absolut unchronologische Geschichte. Fazit: „Elf Leben“ ist geistreich, stilvoll und bewegend – unbedingt lesen!