Facettenreiche Neuinterpretation

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nessie6 Avatar

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Mit "Elyssa, Königin von Karthago", erzählt Irene Vallejo den antiken Stoff der Aeneis in einer modernen Fassung und einer zeitgemäßen Sprache. Da die Geschichte aus mehreren Perspektiven dargestellt wird, geht Vallejos Roman über eine bloße Nacherzählung hinaus und beleuchtet neue Facetten des Mythos, wobei ich mir bisweilen noch mehr Tiefe gewünscht hätte.
Auf eine Zusammenfassung der Handlung kann angesichts des bekannten Stoffs vermutlich verzichtet werden, so dass ich in dieser Rezension eher auf die Darstellung im Roman eingehen werden. Die verschiedenen Perspektiven habe ich als bereichernd empfunden – auch wenn einige Figuren etwas auf Distanz belieben, konnte man so Einblicke in verschiedene Gedanken- und Gefühlswelten gewinnen.
Durch die häufigen Perspektivwechsel erfährt die antike Geschichte, die am umfassendsten bei Vergil dargestellt ist, an einigen Stellen eine neue Dynamik, in manchen Passagen hingegen hat es meinem Empfinden nach eher dafür gesorgt, dass der Handlung an Spannung genommen wurde. Gerade auf Aeneas‘ Perspektive, mit der der Roman ja trotz der namensgebenden Königin beginnt, hätte ich auch verzichten können.
Mit Anna hingegen ist eine neue Stimme dazugekommen, die im Vergleich zur antiken Vorlage neue Akzente setzen konnte – vor allem als Kontrapunkt zu Elyssa, die oft in traditionellen Rollenbildern verhaftet bleibt und sich selbst vor allem als Objekt männlicher Wahrnehmung (und Geringschätzung) darstellt.
Da mir der Stoff sehr vertraut ist, hat mir auf der einen Seite sehr gut gefallen, dass auch Vergil als römischer Autor aufgegriffen wird. Auf der anderen Seite hat mir die Spannung etwas gefehlt, weil mir die Geschichte bekannt ist und die Neuerzählung sich für mein Gefühl noch stärker davon hätte lösen können. Insgesamt hat mich der Roman aber überzeugt und für Interessierte an der Mythologie ist er definitiv empfehlenswert, auch wenn es sowohl im Hinblick auf die Sprache als auch auf den Inhalt kein Buch ist, das man „mal zwischendurch“ liest.