Mal eine neue Heldin im Kreis der Neuerzählungen

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scarletta Avatar

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Das Cover, sehr zurückhaltend, klassisch mit dem zarten Gold eines sich auflösenden Schleiers leitet sehr treffend zu diesen Roman hinüber
Die Grundlage dieses Romans bildet die klassische Geschichte um den trojanischen Prinzen Aeneas, den wir schon aus Homers Ilias kennen. Die letzte Schlacht um Troja ist geschlagen. Aeneas trägt seinen Vater auf den Schultern durch die Flammen. Zusammen mit seinem Gefolge zieht er auf einer Irrfahrt durch das Mittelmeer. Am Ende erreichten sie das Gebiet um den Fluss Tiber, um dort das „neue Troja“ zu gründen, aus dem später Rom entstand.

Eine unter mehreren Stationen auf Aeneas langer Irrfahrt war die junge Stadt Karthago. Diese war von Elyssa (auch Dido genannt) gegründet worden. Die phönizische Prinzessin war mit ihrem Gefolgsleuten vor ihrem Bruder hierher an die Küste Nordafrikas geflohen.

Vergil kommt ins Spiel

Der römische Dichter Vergil erzählt in seiner „Aineas“ seine eigene Geschichte um Aeneas und Elyssa. Er lässt den geflohenen trojanischen Helden in einen Sturm geraten. Dieser verschlägt ihn mit seinen Leuten, darunter auch sein kleiner Sohn Iulus, an das Ufer der neu gegründeten Stadt Karthago. Hier wird er von der Herrscherin Elyssa freundlich aufgenommen. Ihr erzählt Aeneas vom Schicksal Trojas, den Listen der Griechen, seiner Irrfahrt und auch von dem Orakel der Götter.
Die verwitwete Elyssa verliebt sich in Aeneas. Doch eine Beziehung zwischen beiden widerspricht dem Willen von Zeus, der auf die Gründung des neuen Weltreiches besteht.

Elyssa rückt wieder ins Rampenlicht

Auf Vergils Version greift die spanische Autorin Irene Vallejo in dem Roman „Elyssa“ zurück. In ihrer Wiedererzählung der Mythologie betrachtet sie die Ereignisse aus wechselnden Perspektiven von Elyssa, ihrer Halbschwester Anna, des trojanischen Helden Aeneas, dem Gott der Liebe Eros und sogar aus der des Dichters des Epos Vergil selber.
Themen und Figuren aus der griechischen Mythologie werden in der modernen, auch gerade feministisch orientierten Literatur zur Zeit gerne aufgegriffen und neu erzählt. Mich haben da besonders die Erzählungen von Madeline Miller („Circe“) oder Natalie Haynes begeistert. Vielleicht bin ich deshalb mit einer bestimmten Erwartungshaltung an diesen Roman herangegangen. Die konnte allerdings nicht in allen Punkten erfüllt werden.
Das Schicksal des Aenaes nach dem trojanischen Krieg oder der Mythos um Karthago war mir nicht so präsent, dass ich problemlos in die Geschichte hätte einsteigen können. Leider fehlen dem Roman entweder eine erläuternde Einführung oder ein paar Zeilen im Anhang zum Nachschlagen. Da bleibt einem nur die eigene Internetrecherche um die Wissenslücken zu füllen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Nachschlagen lesen, aber mir persönlich fehlt dann der Hintergrund.

Untypische Held*innen

Der Wechsel der Perspektiven der handelnden Charaktere erfolgt kapitelweise. Dieser Sichtwechsel ist recht interessant und abwechslungsreich. Vor allem die Schilderungen des Gottes Eros zeigten gewissen Witz. Auch dass man in die Schreibblockade und die Gefühlswelt des Dichters des Epos, den Römer Vergil, Einblicke bekommt, empfand ich als sehr frische, auflockernde Idee.

Die Charaktere Elyssa und Aeneas haben einiges gemeinsam. Er – ein typischer Held, der letzte Überlebende des trojanischen Königsgeschlechtes auf der Suche nach einem Neuanfang, Sie - eine mutige, heldenhafte Frau, als Prinzessin geboren, taktisch-kluge Stadtgründerin. Beide sind im mittleren Alter mit einer ehelichen Beziehung hinter sich. Trotzdem oder gerade deshalb sind sie keine klassischen Helden, sondern Menschen mit Zweifeln, Unsicherheiten und dem Bedürfnis nach Liebe und Sicherheit. Das ist ein echter Pluspunkt dieser Geschichte.

Mit Elyssa wird auch eine bislang eher unbekannte Frau aus dem Dunkel der Mythen ins Licht der Aufmerksamkeit gestellt. Sonst ist sie vielleicht eher bekannt als kleine Randnotiz der Geschichte Karthagos. Auch Karthago als Handlungsort fällt aus dem Rahmen. Beides finde ich sehr erfrischend neu.
Der Schreibstil ist ansonsten eher etwas distanziert, in ruhigerem Tempo und an der Klassik orientiert. Das führte allerdings zu einer gewissen inneren Distanz zu den Figuren bei mir, so dass ich mich nicht in die Handlung hineingezogen fühlte. Dabei ist durchaus ein Spannungsbogen geboten. Die Konflikte durch innere und äußere Feinde setzen die Charaktere nämlich ziemlich unter Druck.

Die Konflikte, die in und um Karthago herum stattfinden, muten einem als Leser*in nicht antik, sondern leider nur zu aktuell an: Kolonialismus, Vertreibung anderer Völker, Genozid, Fremdenhass, Intrigen, Ermordung politischer Gegner etc.

Vermutlich tut man sich als Leser*in etwas leichter, wenn man nicht gleich mit einer bestimmten Erwartungshaltung an diesen Roman herangeht und auch ein ruhiges Erzähltempo entspannend findet.
Immerhin ist der Mythos um die Stadt Karthago mal etwas Neues im Reigen der mythologischen Neuerzählungen.