Eine besondere Geschichte mit kleinen Schwächen

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fraedherike Avatar

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"Nur ein einziges Mal im Leben geschieht es, dass man einen Blick auf sich selbst erhascht. Und dies, und nur dies, wird entweder zum glücklichsten oder zum schrecklichsten Moment des eigenen Lebens." (S. 39)

Grüne Flecken, entfernte Lichtblitze, zu schnell vorbei. Zaghaft berührt Harriet die Scheibe des Zugabteils, die Landschaft hinter einem grauen Schleier verborgen. Ihr Vater sitzt ihr gegenüber, in sich gekehrt und abgekämpft von den letzten Monaten, Jahren, alleine mit seiner Tochter. Sehnsüchtig wendet sie den Blick ab, betrachtet ihr Spiegelbild, ihre braunen Augen. Eine Sekunde, ein anderes Leben. Oskar blinzelt, sucht den Blick seiner Frau, doch sie tut, als schlafe sie; das macht sie immer, wenn sie nicht reden mag. Sie hatten Streit, Worte hatten auf ihren Zungen gelegen, die sie bereuen, überhaupt gedacht zu haben. Sanft strich sie ihrer Tochter durch ihr schlafwarmes Haar an diesem Abend, bevor sie Hals über Kopf das Haus verließen. Sie wolle ihm etwas zeigen, in Malma, damit er sie zu verstehen lernt. Auch Yana möchte verstehen. Krampfhaft hält sie ein Fotoalbum an ihre Brust gedrückt, das letzte, was ihr von ihrem Vater, von ihrer Mutter geblieben ist. Sie möchte verstehen, was in ihrer Kindheit passiert war, dass ihre Mutter sie mit ihrem Vater alleine ließ, ihre Familie auseinanderriss. Ihr Blick verschwimmt, während sie das Foto ihrer jungen Mutter betrachtet: den Kopf trotzig auf den Händen abgestützt sitzt sie auf einer Bank, über ihr ein Schild: Malma.

„Wann weiß man, dass man ein Kind verloren hat?“ (S. 110)

Vor und zurück. Jahrzehnte voller Liebe und Schmerz vergehen, überschneiden einander, kehren wieder; ein immerwährender Kreislauf. In seinem neuen Roman „Endstation Malma“ zeigt Alex Schulman auf, welchen Einfluss Vergangenes auf unsere Gegenwart haben kann, oder: wie die Tränen unserer Eltern Jahrzehnte später unsere Sicht verschwimmen lässt. Einfühlsam verbindet er die Geschichten dreier Generationen einer Familie, die durch mehrere traumatische Ereignisse über die Zeit miteinander verbunden sind, ihren Schmerz und ihre Eigenheiten an ihre Kinder und Enkel weitergeben, eine „gerade Linie von der Kindheit bis in die Gegenwart hinaus“ (S. 233). Sie alle sitzen und saßen – alles eine Frage der Perspektive – im Zug nach Malma, wollten mit etwas abschließen, etwas beweisen, alte Dämonen zum Schweigen bringen. Immer klarer, intensiver werden die Bilder, je näher sie ihrem Ziel kommen, was sie an einem Punkt in ihrem Leben verletzt hat, und desto deutlicher treten die Parallelen hervor; die Abstände werden kleiner, die Brust enger, das Atmen fällt schwer. Es kribbelt unangenehm unter der Haut, letzte Worte, angespanntes Flüstern, das Geräusch von brechendem Knochen.
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„Alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist.“ (S. 233)
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Schulman zeichnet mit wenigen Worten sensible, eigenwillige Charaktere, die jede:r für sich ungemein interessant sind, die Sorgen haben, Ängste, nach der Sicherheit suchen, die sie in jungen Jahren nie erhalten haben. Doch obgleich man sie fast zu atmen hören meint, konnte ich zu niemandem wirklich eine Verbindung aufbauen, fühlte ich mich seltsam entfernt - und doch so nah, es ist paradox, spürte ich manches doch so intensiv, als würde es mir selbst wiederfahren. Vielleicht, wer weiß, wollte mein Kopf mich schützen, dass ich mich nicht zu sehr in den Fallstricke verfange, hatte ich beim Lesen doch selbst den Halt verloren, hier, in meiner Welt. Was jedoch kritisch angemerkt werden muss, ist die Beschreibung von Yana, die des Öfteren lediglich über ihr Aussehen und ihre Körperform charakterisiert und somit beschämt wird. Das hätte schöner, anders gelöst werden können, hinterließ es doch einen bitteren Nachgeschmack. Was mich an "Endstation Malma" jedoch sehr begeistert hat, ist der besondere, thrilleresque Handlungsaufbau mit seinen zarten Überblendungen, und der sie verbindende Gedanke. Denn insbesondere darüber musste ich noch lange nachdenken.