Halt auf freier Strecke

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christian1977 Avatar

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Als die achtjährige Harriet mit ihrem Vater im Zug sitzt, weiß sie noch nicht genau, wohin sie diese Reise führen wird. Während ihr Vater seine große Kamera dabei hat, trägt das Mädchen in ihrem Rucksack ihre Malsachen - und eine Urne. Ebenfalls im Zug sitzt Oskar mit seiner Ehefrau. Die beiden hatten sich einst auf einer anderen Zugfahrt kennengelernt, doch mittlerweile herrscht zwischen ihnen nur noch Schweigen. Und dann ist da noch Yana, die ohne Begleitung reist und gedankenverloren in ihrem Fotoalbum blättert. Sie alle haben ein gemeinsames Reiseziel: Malma, ein kleiner Ort, an dem man sich wundert, dass hier überhaupt noch ein Zug hält. Ein Ort, der für jede:n einzelne:n von ihnen eine ganz besondere Bedeutung hat...

"Endstation Malma" ist der neue Roman des schwedischen Erfolgsautoren Alex Schulman, der in der deutschen Übersetzung von Hanna Granz jetzt bei dtv erschienen ist. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt sorgte Schulman vor allem mit "Die Überlebenden" für Furore und erfreut sich seitdem einer treuen Leserschaft. Sein neues Werk ist über weite Strecken ebenso lesenswert, krankt aber leider an derselben Schwäche - einem überkonstruierten und unglaubwürdigen Ende. Doch während man bei "Die Überlebenden" noch mit einem Kopfschütteln darüber hinwegsehen konnte, entpuppt sich das Finale von "Endstation Malma" als regelrechtes Ärgernis.

Wie schreibt man eine Rezension, in der man über den absoluten Schwachpunkt des Romans gar nicht viel sagen kann, weil man künftigen Leser:innen ansonsten damit die Freude respektive den Ärger verderben würde? Und wie bewertet man ein Buch, das einen über gut 250 Seiten absolut gefangen nimmt, um mit einer Schlussvolte alles auf den Kopf zu stellen? Ein schwieriges Unterfangen...

Zunächst einmal fällt "Endstation Malma" durch seine wunderbare Sprache, vor allem aber die hervorragende Komposition des Textes auf. Auf der sprachlichen Ebene kommen nicht nur Zugfreund:innen auf ihre Kosten. Sehr gelungen, wie Schulman einerseits poetische Beschreibungen der vorbeirauschenden Landschaften mit knallhartem Realismus paart, wenn die Bahn mal wieder auf freier Strecke zum Halt kommt. Brillant gar, wie es dem Autoren gelingt, Schritt für Schritt das Verhältnis der Figuren zueinander und das Rätsel über die Zugfahrt aufzudecken. Da ist höchste Aufmerksamkeit der Leserschaft erforderlich.

Gemein haben alle Figuren auf jeden Fall, dass sie in ihrem Leben mindestens einmal zutiefst verletzt wurden und noch immer darunter leiden. Dabei gelingt Schulman eine der vielleicht traurigsten Szenen der Gegenwartsliteratur. Fast schmerzhaft ist es, wenn man als Leser:in gemeinsam mit der kleinen Harriet den Eltern im Nebenraum zuhört und dabei erfährt, dass niemand von ihnen bei der geplanten Trennung Harriet "behalten" möchte. Tatsächlich wirkt das Kind hier wie ein unerwünschter Gegenstand.

Ohnehin ist Harriet die Schlüsselfigur des Romans. Sie ist es letztlich, die die Fäden zwischen den Figuren zusammenhält und sie ist es auch, die den Verlauf des Romans am stärksten beeinflusst. In einer späteren Episode lernt man diese Harriet als junge Frau und gleichzeitig als hochinteressante und hochkomplexe Romanfigur kennen. Eine Frau voller Intensität und Emotionen, die ihren Mitmenschen alles abverlangt, aber auch so viel gibt. In einer besonders bemerkenswerten Szene sitzt diese Harriet gemeinsam mit ihrem neuen Freund auf dem Balkon und rührt diesen zu Tränen, als sie ihn über seine Kindheit reflektieren lässt. Es ist die wohl stärkste Szene des gesamten Romans und lässt sie nur noch intensiver werden, wenn man weiß, dass es hier auch um die Kindheitserlebnisse Alex Schulmans geht, die dieser wie schon bei "Die Überlebenden" gekonnt in die Romanhandlung einbindet.

Mit zunehmender Dauer des Romans schleichen sich Szenen unnötiger Härte ein, die in ihrer Explizität die Handlung des Romans nicht voranbringen und in erster Linie wohl schocken sollen. Da beißt ein Kind dem anderen eine Brustwarze ab, was in seinen Details kaum zu ertragen ist. Ein weiteres Kind tritt versehentlich auf den Kopf eines Kaninchens und tötet es damit. Und ein Mädchen wirft in einem Zirkus einem Affen den Ball mit voller Wucht an den Kopf, so dass auch dieses Tier stirbt. Wer Mitleid mit Tieren hat, wie beispielsweise Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, sollte bei dieser Lektüre also vorsichtig sein.

Meisterlich gelingt es Schulman wiederum, die Erzählung voranzutreiben. "Endstation Malma" fliegt von Cliffhanger zu Cliffhanger. Nun mag man dem Schweden vorwerfen, dass er es damit übertreibt, doch wenn jemand dieses Spiel mit den Leser:innen so gut beherrscht, ist es durchaus legitim, dieses Mittel auch anzuwenden. "Endstation Malma" wirkt dadurch manchmal sogar wie ein Kriminalroman, allerdings wie ein besonders spannender und anspruchsvoller.

Insgesamt also mit Ausnahme der Grausamkeiten ein hervorragender Roman, knappe fünf Sterne, Leseempfehlung. Könnte man meinen, wäre da nicht das vollkommen in den Sand gesetzte Finale. Dieses führt nämlich nahezu die komplette vorangegangene Handlung ad absurdum. Ja, eigentlich könnte man die gesamte Zugfahrt aus der Handlung streichen. Schulman setzt nämlich abermals auf den Überraschungseffekt, diesmal aber in mehrfacher Hinsicht. Da werden zwei Geheimnisse aufgedeckt, die die Leser:innen aber eigentlich überhaupt nicht tangierten. Es kommt zu dramatischen, völlig unglaubwürdigen Handlungen. Und, was fast das Schlimmste ist: Schulman führt seine Figuren vor, der Umgang mit ihnen ist nahezu schäbig. Während einige sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden, eine Figur plötzlich das Böse überhaupt verkörpert, muss ein anderer Charakter das ganze Schlamassel ausbaden. In jeder Hinsicht bedauerlich!

So ist "Endstation Malma" insgesamt ein über weite Strecken hervorragender Generationen-Roman, der sehr gut komponiert und erzählt wird. Das Finale ist allerdings so unrund, dass ich nur eine begrenzte Leseempfehlung aussprechen kann. Oder man schlägt den Roman einfach nach 270 Seiten begeistert zu, erspart sich den Ärger - und nimmt sich einen Halt auf freier Strecke, ohne in Malma anzukommen.

3,5/5