Virtuous erzählte Generationentragödie

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viv29 Avatar

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Der Klappentext macht sofort neugierig – drei Menschen, deren Schicksale verwoben sind, fahren mit dem Zug nach Malma. Weiter gibt es wenig Information (was angesichts der Geschichte verständlich ist – endlich mal ein gelungener Klappentext, der weder verfälscht noch bereits wesentliche Wendungen mitteilt, leider keine Selbstverständlichkeit) und so war ich gespannt, was mich erwartete.
Der gelungene Schreibstil zieht die Leser sofort in die Geschichte, er ist zugänglich, lebensnah und gekonnt. Das Buch liest sich unglaublich leicht und trotz des tiefdunklen Sujets fast entspannend, weil der Stil so mühelos und angenehm unprätentiös wirkt. Es gibt keine umständlichen Formulierungen, keine kunstvoll aufgebauschten Passagen, alles ist schnörkellos und zeugt in genau dieser Reduziertheit von einem meisterhaften Umgang mit Sprache. Große Teile des Buches berichten aus der Sicht von Kindern, was mir normalerweise überhaupt nicht zusagt, aber hier wurde es mit einer glaubhaften Erzählstimme berichtet, ohne ins zu Kindische abzugleiten. Im Text verbergen sich viele kleine Satzjuwelen, die ich mehrfach las. Der Stil ist also eine wahre Freude.
Dieser Umgang mit Sprache verbindet sich dann mit einem virtuosen Spiel der Erzähl- und Zeitebenen. Wir erfahren die Geschichte aus drei Perspektiven, die sich einander immer mehr annähern. Am Anfang weiß man noch nicht, wie diese drei zusammengehören, aber das erschließt sich schnell. Stück für Stück komplettiert sich das Bild, und das ist so gelungen gemacht, daß ich es beim Lesen genossen habe. Die Leser begleiten alle drei Erzähler auf ihrer jeweiligen Reise nach Malma, erfahren sowohl das, was auf der Reise geschieht, wie auch vieles, was vorher geschehen ist, springen beim Lesen also ständig hin und her, ohne daß sich das verwirrend und ungeordnet anfühlt – im Gegenteil, alles gehört genau dorthin, wo es erzählt wird und trägt zum Gesamtbild bei. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es gewesen sein muß, die Geschichte auf diese Art zu konzipieren, und daß dies so geschmeidig funktioniert, zeigt das Können des Autors und begeisterte mich immer wieder.
Thematisch geht Schulman hier in traurige Tiefen – die Sünden der Eltern ziehen sich durch die Geschichte, in die nächste Generation, die angeschlagen ebenfalls in Fehler verfällt und eine weitere Generation beschädigt. Jede Seele in diesem Buch ist verletzt, jede geht ungesund damit um und manche Szenen lassen einen nur entsetzt den Kopf schütteln, insbesondere wenn es darum geht, was Eltern ihren Kindern antun können, das oft sogar ohne schlechte Absicht, sondern fast im Vorbeigehen, aus Gedankenlosigkeit oder selbst erfahrenem Leid. Manche Szenen waren mir etwas zu skurril und rissen mich eher aus der Geschichte, überwiegend aber blieben sie in dieser leisen Beiläufigkeit der Grausamkeit, die so tief wirkt – bei den Betroffenen ebenso wie bei den Lesern.
Manches ist am Anfang rätselhaft und erschließt sich erst viel später, ebenso wie die Charaktere oft neue Facetten offenbaren. So gehen nicht nur die Charaktere auf eine Reise, auch die Leser begeben sich in diesem Buch auf eine Reise der Erkenntnis, die ein wahres Erlebnis ist. Selbst wenn das etwas sentimentale Ende mich nicht komplett überzeugte, weil doch einige Fragen offenblieben und ich zu einigen Dingen gerne mehr gelesen hätte, war es eines jener Bücher, in die man ganz tief eintauchen kann und bei denen man wünschte, sie würden noch ein ganzes Stück länger sein, weil man noch gar nicht am Ende ankommen möchte.