Großer Leidensdruck

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marieon Avatar

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„Ich wollte so dringend raus aus meiner Haut, aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht hinaus, und niemand konnte herein. Die Grenzen des Körpers sind nicht verhandelbar.“

Lucia Osborne-Crowly S. 7

Sie ist achtzehn und hat zum ersten Mal Verlangen zum Ausdruck gebracht, sich auf seinen Schoß gesetzt und ihn schmatzend geküsst. Er ist hübsch, schmal, die blonden Locken fallen ihm in die Augen. Dann liegt er auf ihr und es tut weh, aber nicht genug, um etwas zu sagen.

Sie studiert Gendertheorie und ist gerade ins Wohnheim gezogen. Ihre Gefühle für Ella sind riesig, aber sie versucht dieses heiße Knäuel geheim zu halten. Auf einer Party küsst sie zum ersten Mal eine Frau und findet Gefallen daran.

Sie zieht zu Ella in die Wohnung, die ihre Eltern ihr geschenkt haben. Sie nehmen jede Kampusparty mit, als würden sie nur dafür morgens aufstehen. Gin tonic, Wodka Lemon und Bier lassen sie tanzen, bis sie das Gleichgewicht verlieren. Ella fällt es leichter, sich den Lehrstoff anzueignen. Nach einem Jahr in der gemeinsamen Wohnung schmeißen sie ihre erste Party und nehmen sich vor, dafür zu sorgen, dass sie kultivierter abläuft, als alles, was sie bis dahin erlebt haben. Aber die Leute, die sie eingeladen haben, bringen drei andere mit, wovon zwei betrunken sind. Sie trinken den Tequila pur, weil die frozen Magueritas zu lange dauern, treten die Chips in den Teppich und kleckern Guacamole aufs Sofa. Um Mitternacht ziehen sie weiter und Ella und sie bestaunen das Chaos.

Sie hat die Pille abgesetzt, die Bauchkrämpfe sind unerträglich, zwingen sie, sich im Bett schweißnass zusammenzukrümmen.

Ihr Tutor hat ihr von ihrem ersten Tag in seinem Hörsaal an E-Mails geschickt. Sie beginnen ein Verhältnis dreimal pro Woche für dreißig Minuten in seinem Büro. Ella sagt: „Es wird dir über den Kopf wachsen und du weißt das“. Dann hält er sie hin und lässt sie abblitzen. Sie erfährt aus dem Internet, dass er auf Hochzeitsreise ist. Sie bricht das Studium ab und sucht sich einen Job.

Fazit: Madeline Docherty erzählt mir die Geschichte einer jungen, unsteten Frau, die nicht nur unter Endometriose leidet. Die namenlose Protagonistin wächst in einem gefühllosen Elternhaus auf. Der trinkende Vater zeigt keinerlei Interesse an ihr, die emotionslose Mutter nur, wenn sie funktioniert. In ihrer toughen Freundin Ella findet sie jemanden, der ihr stets zur Seite springt und ihre Probleme löst. Und weil sie viele Probleme erzeugt, gerät die Beziehung bald in ein Ungleichgewicht. Die Protagonistin ist harmoniebedürftig und stellt ihre Gefühle lieber hinter die anderer. Weil sie ihre eigenen Grenzen nicht kennt, kann sie sie nicht nach außen verteidigen. Die Grenzen anderer nimmt sie nicht wahr. Der Leidensdruck und die verminderte Lebensqualität durch ihre chronische Erkrankung ist riesig. Bis zur Diagnosestellung vergehen Jahre. An den Menschen, bei denen sie Zuneigung sucht, hängt sie wie ein Rucksack, der sich nicht abschütteln lässt. Dabei lässt sie keine Intimität, keine echte Nähe zu, weil sie sich nie ganz zeigt. Die Autorin hat die ungewöhnliche Form der 2. Person, also der Du-Erzählerin gewählt. Zuerst fand ich das nah und intim, doch im Verlauf der Geschichte und mit dem besseren Kennenlernen der Protagonistin hat es mich genervt und mich fühlen lassen, wie sich Ella gefühlt hat. Als würde die ganze Last des selbstzerstörerischen Verhaltens bei mir abgeladen. Ich kann mir vorstellen, dass die Autorin das beabsichtigt hat und deshalb gefällt mir der Einsatz dieses Stilmittels mit etwas Abstand im Nachhinein. Es scheint paradox, dass diese verschlossene Protagonistin bei mir eine Nähe sucht, die sie den anderen in ihrer Geschichte nicht zugesteht. Tatsächlich habe ich dieses Buch aber bis zur letzten Seite sehr gerne gelesen auch, weil ich mich selbst als junge Frau wiedererkennen konnte.