Radikal Ungeschönt

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kaberke Avatar

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Madeline Dochertys Debüt hat mich überzeugt. Am Anfang musste ich mich an den Sprachstil gewöhnen: Die Verwendung des „Du’s“ als Perspektive war mir erst fremd und hätte mir auf englisch etwas besser gefallen. Obwohl dieser Einbezug von mir als Leserin vielleicht dazu führen sollte, mich mehr mit der Protagonistin zu identifizieren, hat es bei mir eher dazu geführt, mich mit zunehmendem Handlungsverlauf von ihr zu distanzieren. Sobald ich mich an die Sprachform gewöhnt hatte, fiel es mir sehr einfach, das Buch zu lesen und ich konnte mich gut der Sogwirkung der Geschichte hingeben.
Madeline Docherty erschafft eine Protagonistin, die - wie eine leere Hülle - jede Leserin sein könnte. Nicht gerade mit Sympathie, aber doch voller Mitgefühl habe ich ihre Reise durch die Adoleszenz und Diagnosefindung verfolgt. Viele Themen kommen einem selbst bekannt vor - durch das ganze Buch über habe ich geschwankt, ob ich mich in der Protagonistin sehe oder nicht. Mit der Protagonistin möchte man nicht tauschen und gleichzeitig aber auch ihr Verhalten dem außen gegenüber nicht entschuldigen. Oft habe ich mir gewünscht, dass sich alles „zum Guten“ auflöst, nur um dann wieder zu schwenken und zu hoffen, dass die Leidensgeschichte einfach aufhört. Wahnsinnig spannend, so eine „radikal ungeschönte“ Protagonistin zu erschaffen, die gerade mit der „erzwungenen Identifikation“ durch das Du als Sprachstil für so viel Reibung sorgt und sich hinterfragen lässt: wie verhalte ich mich in Freundschaften? Wie viel „Ella“ bin ich und wie viel Protagonistin? Ich finde es ein wertvolles Buch über die Komplexität des Frauseins, über die Herausforderungen des Heranwachsens, über die Suche nach Identität und Zugehörigkeit und über das Kranksein. Und darüber, sich selbst nicht „verklärt“ zu betrachten, sondern zu hinterfragen, welche Rolle man selbst in seinem „Leiden“ spielt.