Wenn´s nicht so läuft

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
elke seifried Avatar

Von

„Wie oft wünschen wir uns, die Dinge wären anders, tun aber nichts dafür, um sie zu verändern? Ist das nicht verrückt, etwas Neues zu wollen, aber nicht aufzuhören, das Alte zu tun?“, ich denke diesen Wunsch kennt jeder, und genau so geht es auch Judith, die hier ihre ganz persönliche Geschichte erzählen darf.

„Du hast Anne wiedergetroffen: Wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du dein Elternhaus an eine zwielichtige Jugendliebe verkaufen, mit dem Typen auswandern und bis heute Abend zehn Kilo abnehmen.“, fasst kurz und knapp zusammen, was auf Judith zukommt, als sie zurück in ihre Heimat muss, um ihre Mutter zu beerdigen, denn „Auf einmal ist alles wieder da: der Schmerz, die Sehnsucht, die Liebe, die Angst und die Schuld.“ Bei einem Besuch auf dem Friedhof stolpert sie über Anne, ihre ehemals beste Freundin, der sie am allerwenigsten über den Weg hätte laufen wollen, weil sie auch wegen ihr die alten Schuldgefühle plagen. Trotzdem die beiden sich zwanzig Jahre nicht gesehen haben, stimmt die Chemie zwischen ihnen sofort wieder und Judith bekommt endlich die Gelegenheit sich auszusprechen und dazu noch Anne als Freundin zurück, könnte nur sein, für nicht allzu lange. Das Haus der Mutter sollte eigentlich möglichst schnell verscherbelt werden, darauf spechtet ihre alte Jugendliebe Heiko, und der hat es nicht nur aufs Haus abgesehen, sondern macht ihr auch Avancen darüber hinaus. Die Schmetterlinge in Judiths Bauch geraten ins Flattern und gleichzeitig ihr Leben ins Wanken.

Warum hat es Judith so lange vermieden zurück in ihren Heimatort zu kommen, was ist zwischen Anne und ihr vorgefallen, warum bleibt ihr die alte, neue Freundin vielleicht doch nicht erhalten und von welchen Sehnsüchten ist die Rede, ist es die alte Liebe zu diesem Heiko? Auf diese Fragen erhält man als Leser häppchenweise Antwort, während man Judith und ihre Unzufriedenheit von Seite zu Seite durch Gespräche mit Anne, Lesen von alten Tagebüchern und auch Erinnerungen immer besser kennenlernen darf. Knapp 50, einen Ehemann, der damals schon eher Notlösung als die große Liebe war und für den gilt „Kein Herzrasen, aber einen soliden niedrigen Ruhepuls. Damit können wir zusammen neunzig werden.“, die drei Söhne, die zu bemuttern ihr Lebensinhalt der letzten Jahre war, sind die nun aus dem Haus. War es das im Leben? Vor allem wenn es zudem bei allem was sie erlebt nur noch heißt „… die zugehörigen Gefühle haben sich mit den Jahren abgenutzt wie ein Handtuch, das irgendwann mal kuschelig war und jetzt bloß noch zum Aufwischen taugt, wenn was danebengeht-“ Auf der einen Seite gilt natürlich, „Es ist nämlich gar nicht so schlimm, wenn man sich mit den Umständen zufriedengibt. Solange es alle anderen auch tun.“, Aber einmal zu grübeln und zaudern begonnen, heißt es für Judith bald: „Ich brauche Detox für mein Ego und ein Abführmittel, das mir die Schlacken aus dem Charakter spült. Wann hatte ich bloß angefangen, so neidisch auf das Leben andere Leute zu werden?“ Warum Judith einige Versuche ihrem alten Leben zu entkommen und mehreren Überraschungen und Offenbarungen später, erkennen muss, „Alle um mich herum erfüllen sich einen Traum. Und ich? Ich hab nicht mal einen!“ und ob sie noch einen finden wird, wird nicht verraten.

Pointiert und witzig lässt die Autorin ihre Judith, die eigenen Unzulänglichkeiten analysieren. „Ich bin in der Zwischenzeit auch erwachsen und reif geworden, jedenfalls Teile von mir. […] Das einzige woran ich meine Lebenserfahrung in diesem Moment deutlich spüre, sind meine Knie und mein unterer Rücken. Witzige Sprüche und Dialoge, machen das Lesen zum großen Vergnügen. Auf ein „Du hast doch immer gesagt, ich solle mehr auf meinen Bauch hören. Genau das habe ich getan.“, kann da schon mal ein „Aber doch nicht, wenn dein Bauch dir so einen Unsinn erzählt! Hast du vorher vielleicht nicht genug gegessen? Auf keinen Bauch der Welt ist Verlass, wenn er leer ist. Die Autobahnen in Richtung Kopf bestehen aus Fetten und Kohlenhydraten. Wenn der Magen knurrt, kann das Hirn nichts hören.“, kommen. Aber man darf nicht nur Schmunzeln, es gibt auch unheimlich viele Szenen, die zu Herzen gehen und einen emotional tief berühren. Auch für die Spannung ist durch neue, überraschende Entwicklungen auch nachdem die Fragen nach Schuld und alter Liebe beantwortet sind gesorgt. Ein Roman, bunt wie das Leben eben auch.

„Die sozialen Medien finde ich asozial. Gaukeln Wackelkandidaten wie mir vor, dass immer und überall Sonne scheint, außer über meinem eigenen Dach. Ist das Neid, ist das Missgunst, ist das eine beginnende Depression?“ Nicht nur einmal hat mir die Autorin aus der Seele gesprochen, wenn sie Judith die moderne Gesellschaft betrachten lässt und mich ganz oft auch an Erlebnisse und Dinge meiner Vergangenheit erinnert, wie Prilblumen, Telefon mit Kabel oder auch den einen oder anderen Songtitel. Das hat mir ebenso gut gefallen, wie die vielen, tollen Botschaften fürs eigene Leben, die sich in diesem Roman verstecken und ebenfalls amüsant verpackt sind. „Du sagst du hast eine Mortalitätsquote von 95 Prozent? Irrtum , Anne. Sie liegt bei exakt einhundert Prozent. Das bringt das Leben so mit sich. Wir sterben alle, ich übrigens auch, was mir ziemlich zu schaffen macht, denn ich bin mir im Laufe der Jahre sehr ans Herz gewachsen. Und ich möchte die Zeit, die mir bleibt, genießen. Das möchte ich dir auch empfehlen.“, ist nur ein Beispiel dafür.

Judith erzählt aus der Ich-Perspektive. Obwohl ich eigentlich ein recht zufriedener Mensch und zudem keine Mama bin, konnte ich mich super in sie hineindenken und fühlen. Uns beiden eigen ist sicher, „Außerdem hat mir ein meine Mutter ein gewisses Talent dafür bereits in die Wiege gelegt. Wie ein Drogenspürhund den Stoff finde ich jeden Fehler. Bei mir.“, alleine schon das hat sie mir super sympathisch gemacht. Anne, von ihrem Vater schon von klein an auf Erfolg getrimmt, habe ich schnell ins Herz geschlossen. Ich ziehe meinen Hut vor ihrer Kraft, noch mehr, nachdem ich auch hinter die Fassade blicken durfte. Mein Highlight unter den Nebendarstellern war Erdal, der gute, vielleicht auch beste Freund von Judith, der immer alles so treffend auf den Punkt bringt.

„Mein ganzes Leben zeigt, wenn ich ehrlich bin, wie sehr ich mich angepasst habe. Und das Saublöde ist: Ich kann niemandem dafür die Schuld in die Schuhe schieben.“ Nicht die anderen sind schuld, wenn man selbst unzufrieden ist, und wenn man es ist, dann muss man es ändern, das ist für mich die wichtigste Botschaft, dieses amüsant, aber auch bewegenden Romans, der so herrlich bunt wie das Leben ist.