Einmal mit Etta das Meer sehen

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affectionista Avatar

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Etta ist 83 Jahre alt, wohnt in Kanada, und hat noch nie das Meer gesehen. Und weil sie das ändern will, packt sie eines Tages ein bisschen Essen ein, zieht die festen Schuhe an, nimmt die Schrotflinte in die Hand und macht sich auf den Weg. Ihre Reise an die kanadische Ostküste ist über 3000 Kilometer lang. Währenddessen bleibt ihr Mann Otto zu Hause zurück und schreibt ihr Briefe, die sie nie bekommen wird (oder die er nie wegschickt, sondern für ihre Rückkehr aufhebt). Auf dem Weg erinnert sich Etta an ihr langes Leben, an Otto und an Russell. Und Otto erinnert sich zu Hause an seines und ihr gemeinsames. Und Russell, der Nachbar von Etta und Otto, erinnert sich auch, hält Ettas Verschwinden nicht aus und fährt ihr nach. Einiges Unausgesprochenes wird beim Aufeinandertreffen ausgesprochen, vieles nicht. Russell geht schließlich seinen eigenen Weg, während Etta weiter in Richtung Küste unterwegs ist. Bald schließt sich ihr James an, ein sprechender Kojote. Sie wird eine Berühmtheit, wird beklatscht und bejubelt, wenn sie in bewohnte Gebiete kommt, und bleibt trotzdem niemals stehen, bis sie am Ende das Meer sieht.

In einer stellenweise ironischen, manchmal auch naiven und trocknen Sprache erzählt die Autorin Emma Hooper in ihrem Romandebut ETTA UND OTTO UND RUSSELL UND JAMES die langen Lebensgeschichten ihrer Protagonisten nach. Erinnerungen blitzen auf, verschwinden wieder, vieles bleibt in der Schwebe, und bei einigem ist nicht klar, ob es sich um eine Einbildung oder um die Realität handelt. Und genau das hat mir ausgesprochen gut gefallen. An vielen Stellen schwebt die Geschichte irgendwo dazwischen, manchmal gewinnt das Fantastische (zum Beispiel wenn Etta mit dem Kojoten zu sprechen beginnt, als wäre das ganz selbstverständlich), aber nie wird es kindisch oder zu naiv. Es bleiben immer unausgesprochene Zwischenräume offen, die neue Ebenen aufmachen. Das ist sicherlich auch der Übersetzung von Michaela Grabinger geschuldet, die mich mit ihrer eigentümlichen Sprache sehr begeistert hat. Ich mochte auch die Dramaturgie, die sich durch die Sprünge zwischen den Jahrzehnten ergibt: Wie sich mir die Vergangenheit schrittweise entblättert hat, und ich dadurch immer wieder einen neuen Blick auf die Gegenwart bekommen habe. Und ich mochte Emma. Und Otto. Russell mochte ich nicht so sehr, aber irgendwann habe ich verstanden, wieso er so ist wie er ist, und dann habe ich mich sehr mit ihm gefreut, dass er am Ende doch noch glücklich wird.

Es gibt gegen Ende eine Begegnung mit einer neuen Figur, die ich nicht unbedingt gebraucht hätte. Es kam mir so vor, als würde sie aus der Angst heraus auftauchen müssen, dass „zu wenig passiert“. Mir wäre das Innenleben von Etta aber an der Stelle genug gewesen. Doch diese Episode ist kurz genug um mich nicht groß zu stören. Insgesamt war es mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Etta auf ihrer Reise begleitet zu haben. Und jetzt will ich auch wieder einmal ans Meer.