Die Blume aus dem Gemeindebau

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zopfmadame Avatar

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"Irgendwer von euch wird mir das Herz brechen", dachte ich mir beim Lesen von "Fabula Rasa" bereits auf Seite 150 - und ich sollte recht behalten.

Vea Kaiser ist für mich DIE Schriftstellerin der österreichischen Gegenwartsliteratur. Ihre bisherigen Bücher haben gezeigt, dass Kaiser nicht nur eine aufmerksame Beobachterin der menschlichen Eigenheiten ist, sondern auch ein besonderes Feingespür an den Tag legt, um das Epische im Alltäglichen zu entdecken und dies in einem beinahe märchenhaften Schreibstil aufs Papier zu bringen vermag. In ihrem neuesten Werk beweist sie wieder einmal, dass auch im Skurrilen Schönheit wohnt, und dass das Groteske oft das Menschlichste ist.

In Fabula Rasa stolpern wir gemeinsam mit der Protagonistin Angelika Moser durch das Wien den 1980er Jahre. Mit Ende 20 ist Angelika der Gemeindebausiedlung, in welcher sie aufgewachsen ist, entflohen und hat eine gutbürgerliche Anstellung in der Buchhaltung des Traditionshotels "Frohner" erhalten. Die meist schlaflosen Nächte verbringt sie mit Vorliebe in diversen Nachtclubs, in denen sie mit ihrer besten Freundin Ingi und dem exzentrischen Sänger Freddy bis zum Morgengrauen durchtanzt. Diese drei waren dann letztendlich auch für meinen bereits eingangs erwähnten Herzschmerz verantwortlich - und das mehrmals! Als Angelika dann überraschend schwanger wird, ist ihr schnell klar: sie möchte ihrem Sohn all das bieten können, was sie in ihrer Kindheit nie hatte - und dafür braucht sie vor allem eins: Geld. Ihr Buchhaltungsgehalt reicht hier bei weitem nicht aus und so beginnt sie, ihr Zahlengeschick nicht nur zum Vorteil des Hotel Frohners, sondern auch zu ihrer eigenen Bereicherung einzusetzen.

Bereits von Anfang an wissen wir, wo Angelika Mosers Geschichte enden wird: nämlich im Gefängnis Wien-Josefstadt. Hier wird sie von einer Autorin besucht, welche Angelikas Geschichte aus deren Sicht erzählen möchte. Diese Besuche sind in Fabula Rasa kurz gehalten und Kaiser streut sie nur selten zwischen den Kapiteln ein, doch diese flüchtigen Einstreuer reichen, um dem Leser immer wieder zum Grübeln zu bringen. Während dem Lesen der eigentlichen Rahmenhandlung taucht man vollständig in Angelikas Leben und Gefühlswelt ein. Man findet den Freddy abwechselnd grindig und anziehend; man fiebert bei jeder gefälschten Überweisung mir ihr mit; man bemitleidet sie um die Beziehung zu ihrer Mutter, ihrer besten Freundin, ihrem Sohn und diversen Männern. Man mag Angelika, sie ist klug, sie ist lebensbejahend, sie trägt ihr Herz auf der Zunge - aber vor allem ist sie nahbar. Von außen betrachtet mag die Geschichte vielleicht etwas weit hergeholt scheinen, doch wenn man sich im Sog von Vea Kaisers Wortgeschick befindet, fühlt man sich so, als ob Angelikas Leben genauso gut meines oder deines oder das der nächsten Person sein könnte. 3,3 Millionen Euro vom Arbeitgeben stehlen? Das kann doch mal passieren, wenn man eine neue Wohnung braucht, eine Kinderbetreuung braucht, einen Pflegeplatz für die Mutter braucht,... Doch die kurzen Besuche in der Josefstadt sind jedes Mal wie die im Buch erwähnte Luftwatsche: Plötzlich sieht man sich mit einer anderen Realität konfrontiert, mit einer anderen Angelika konfrontiert. Immer wieder werden Zweifel laut: Stimmt das alles, was die Protagonistin der namenlosen Autorin erzählt? Oder lassen wir uns ein bisschen zu gerne von Angelika in den moralischen Zwiespalt von Gemeindebau und Grand Hotels führen?

Auf den 550 Seiten von Fabula Rase habe ich nicht nur Sympathie für Angelika, sondern auch für Freddy, Julius, Ingi und viele anderen chaotisch-schillernden Figuren aufgebaut. Obwohl zu Beginn erwähnt wird, dass der Roman und die darin vorhandenen Akteure reine Fiktion sind, vermag man kaum zu glauben, dass derart lebendige und facettenreiche Charaktere nicht dem realen Leben entspringen - ich gestehe, ich habe während dem Lesen sogar des Öfteren nach ihnen und dem Grand Hotel gegoogelt.

Wer sich auf ihre Geschichten einlässt, betritt nicht nur den Gemeindebau aus Angelikas Kindheit und das Grand Hotel ihrer Karriere, sondern auch eine Welt, in der Lachen und Weinen nahe beieinanderliegen, und in der selbst die verschrobensten Figuren dank Kaisers phänomenalen Erzählstil eine unvergessliche Tiefe gewinnen.