Haltung ist alles im Leben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
sofie Avatar

Von

“Warum glaubte der Direktor, es wäre in Ordnung, sich in Unterhosen von ihr verarzten zu lassen? Warum meinte der versoffene, halb kahle und viermal geschiedene Hugo, Chancen bei ihr zu haben? Warum ging Berti davon aus, dass sie ihn ein Wochenende lang bei sich haben wollte, wenn er dort nur in seine Pharmazie-Bücher schaute? Und warum glaubte dieser Depp, der für seine Bühnenperformance einen Friedhof entweiht hatte, sie habe für ihn getanzt?” S. 37

Endlich ein neuer Roman von Vea Kaiser! Ich liebe die Bücher der Autorin, die immer geprägt sind von einem tollen Humor und teilweise absurden Geschichten. In “Fabula Rasa” geht es um Angelika, Buchhalterin im Grand Hotel Frohner in Wien. Wir begleiten Angelika auf fast 600 Seiten von den 80er Jahren und ihrem Beginn im Hotel bis in die Gegenwart. Durch diese Zeit ganze Zeit zieht sich ihre Grundhaltung, die sie von ihrer Mutter, einer Hausbesorgerin, mitbekommen hat: Hauptsache Haltung wahren! Und wir begleiten sie bei ihrem gesellschaftlichen Aufstieg: Vom “Hausmeisterbankert” zur erfolgreichen Frau. Dass sie einen großen Teil dieses Erfolgs Betrügereien zu verdanken hat, ist kein Spoiler, denn das erfährt man schon im Klappentext und im Prolog.

Der Autorin gelingt es aber großartig darzustellen, wie es dazu kommt, dass Angelika ihrem Arbeitgeber insgesamt über 3 Millionen Euro stiehlt und damit ziemlich lange durchkommt. Auch wenn man selbst nicht so handeln würde, kann man die meisten Schritte der Protagonistin nachvollziehen. Sie wird sicher nicht jeder Leserin sympathisch sein, aber sie ist unglaublich realistisch beschrieben. Eine Figur mit Ecken und Kanten und einem spannenden Lebensweg.

Das Marketing des Verlags konzentriert sich leider sehr auf den Betrug, dabei bietet der Roman viel mehr. Mir haben besonders die Beschreibungen des Hotels (und hier besonders die des Direktors) sowie der feinen Wiener Gesellschaft gefallen. Wiener Schmäh und Humor kommen nicht zu kurz. Z.B. wenn die langjährige Sekretärin des Chefs in Rente geht:

“Frau Packlhuber war seit einem Jahr in Persion. Ihre Nachfolgerin, eine junge Dame aus Bratislava namens Frau Brslnacziosovna, die der Direktor aufgrund der Unaussprechlichkeit ihres Namens kurz auf Packlhuberova umgetauft hatte, unterschrieb [die Rechnungsformulare].” S. 415

Im Wesentlichen ist es aber die Geschichte einer Mutter, die versucht ihrem Sohn eine bessere Kindheit zu ermöglichen, als sie selbst hatte. Und hier liegt für mich eine weitere Stärke des Romans: Mutterschaft wird unglaublich realistisch geschildert. Von der Schwangerschaft über das Wochenbett, die ständigen Selbstzweifel, Kämpfe mit der Pubertät bis hin zum Loslassen-Müssen, wenn das Kind erwachsen wird.

Einen Punkt Abzug gibt es von mir, da der Roman doch ein paar Längen hat. Die stören aber im Gesamtbild – zumindest für mich – nur wenig. Leseempfehlung!