Gut recherchiertes historisches Drama mit... etwas Glitzer

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blubie Avatar

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Wir schreiben das Jahr 1955 und die deutschen Geschwister Helga und Jürgen, die als Findelkinder in den Nachkriegsjahren in Frankreich von Pflegeeltern großgezogen wurden, bekommen Post vom Roten Kreuz: ihr leiblicher Vater ist aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt. Der Verbleib der Mutter ist seit den Besatzungsjahren ungeklärt.
Die beiden kehren als Teenager in ihre Heimatstadt Köln zurück und für sie beginnt ein neues ungewohntes Leben, inmitten der teils immer noch ausgebombten Stadt, durch die aber bereits der Wind der Wirtschaftswunderjahre weht.

Es ist eine hochdramatische, emotionale und teilweise so berührende Geschichte, dass man zwischendurch tief durchatmen muss. Vor allem die Schilderungen innerhalb eines Waisenhauses, in dem Helga ihr Praktikum absolvieren muss, sind kaum auszuhalten und gehen stark an die Nieren.
Innerhalb des fast 600 Seiten starken Romans werden viele Dinge angesprochen, die ich so gebündelt in einem Buch selten erlebt habe: Rassismus gegenüber Besatzerkinder, die Stellung der Frau in den 50er Jahre, emotionale Entfremdung innerhalb der Familie, Wohnungsnot etc.pp
Großartig recherchiert und glaubwürdig vor die Kulisse der wiederauferstehenden Stadt Köln gesetzt.

Ich war noch nie in meinem Leben in Köln, schon gar nicht in den Nachkriegsjahren... aber ich konnte es sehen und spüren. Auch die Zeit der 50er Jahre hat Lilly Bernstein authentisch - ohne viel Schnickschnack zu benutzen - beschrieben. Aber es sind nicht (nur) die verklärten Petticoat- Polkadots - Rock'n Roll 50er Jahre, sondern auch die ungeschönten Dinge: Gesinnungsaltlasten aus dem Krieg, immer noch zerstörte Stadtteile, der Stellenwert der Frau - um nur einige zu nennen.

Ich habe dieses Buch im wahrsten Sinne des Wortes "verschlungen" und konnte es einfach nicht aus der Hand legen. Ich war wütend, ich habe gelächelt, fast geweint... alle Emotionen durchlebt, die man durchleben kann....
leider auch Verwirrung, zumindest auf den letzten 80 Seiten. Was auch immer da mit Lilly Bernstein passiert sein mag, aber man rutscht auf den letzten Seiten auf einer kitschigen Glitzerwolke dem Finale entgegen, dagegen verblasst in einem amerikanischen Weihnachtsfilm jedes einzelne Zahnpastalächeln.
Da das Buch aber davor meisterlich recherchiert ist und großartige Charaktere und glaubwürdige Atmosphäre hervorgebracht hat, kann man das leicht entgleiste Ende gut wegstecken... einen Punkt Abzug muss ich aber leider dennoch geben. Dennoch eine sehr empfehlenswerte Lektüre.