verstörend, wunderschön und voller Hoffnung

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elohym78 Avatar

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Passend zu Weihnachten meldet sich der Vater von Helga und Jürgen und holt die beiden zurück in ihre Heimatstadt Köln. Während des Kriegs hatten Tante Claire und Onkel Albert die beiden Kinder bei sich aufgenommen, aber weiterhin nach deren leiblichen Eltern gesucht. Jetzt ist es endlich soweit und einer glücklichen Familienzusammenführung steht nichts mehr im Wege. Wären da nicht die schrecklichen Erinnerung an den Krieg, das Leid und das Elend, das immer noch auf deutschen Straßen herrscht.

Lilly Bernstein hat einen warmherzigen und interessanten Schreibstil. Ohne Probleme konnte ich mich in die beiden Kriegskinder Helga und Jürgen hineinversetzen. Ihren Schmerz nach empfinden, der sie entwurzelt und unglücklich zurück gelassen hat. Manchmal ist überleben nicht alles, wenn du kein Glück findest. Und diese beiden Kinder haben das Glück bisher noch nicht gefunden. Sie wurden zwar liebevoll von Tante Claire und Onkel Albert betreut und groß gezogen, aber dazugehört haben sie nicht wirklich. Das soll sich endlich in ihrer Heimat Köln ändern, doch auch hier steht den beiden viel im Weg. Zu aller erst sie sich selber. Während Jürgen der Neustart locker zu gelingen scheint, besteht Helgas Leben aus Kampf.
Jürgen findet eine Anstellung bei den Ford-Werken und geht in seiner Arbeit auf. Die Beschreibungen von Lilly Bernstein waren grandios und haben mir Freude und Staunen bereitet. Diese an Ehrfurcht grenzende Verehrung, bei Ford am Fließband arbeiten zu dürfen, ist heute nur noch schwer nachvollziehbar. So erging es mir mit unglaublich vielen Dingen, die die Autorin bildlich und lebendig schildert: Der erste Fernsehkoch und die Gerichte damals (Erfindung des Toast Hawaii), Tanzveranstaltungen, Schulbildung und der ganze Wiederaufbau der Stadt Köln lasen sich wie ein Abenteuerroman und doch war es erschreckend realistisch, da es eben kein fiktiver Ort zu einer fiktiven Zeit ist, sondern meine Heimat. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich die erwähnten Lieder aus dem Buch abgespielt habe, während des Lesens. Gedanklich flanierte ich über die Ringe, über den Eigelstein und erlebte eine Sitzung im Gürzenich. Alles mit Blick auf das Jetzt und gleichzeitig auf das Damals. Sehr viel fand ich wieder, noch mehr allerdings nicht. Besonders die Beschreibung der Hochbunker war mir nicht präsent: Heute Parkhaus, damals Lebensrettung.

Und diese ganzen Schilderungen der tatsächlichen Geschichte verflocht Lilly Bernstein mit den fiktiven Erzählungen über das Geschwisterpaar. Helgas Leben scheint typisch für die damalige Zeit. Für die Zeit des Umbruchs. Kaum vorstellbar, dass man als Frau die Unterschrift des Vaters oder Ehemanns benötigte, um einen Beruf ausüben zu dürfen! Aber noch schlimmer fand ich die Schilderung, dass es ledigen Müttern verboten ist, ein Kind groß zu ziehen. Die Autorin schildert nicht nur eine Zeit des Wandels, sondern auch zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit und Brutalität, die mir unter die Haut ging. Dabei hielt ich mir vor Augen, dass das alles noch gar nicht so lange her ist und der Kampf in vielen Dingen immer noch nicht vorbei ist. Helgas Geschichte steht sinnbildlich für die vieler Frauen, die ein gewisses Maß an Selbstbestimmung haben möchten. Während des Krieges auf sich selbst gestellt, sollen sie jetzt die Zügel wieder aus der Hand geben und andere bestimmen lassen? Merkwürdige Vorstellung. Doch Helga kämpft für sich, ihre Träume und ihre Ideale und diese Geschichte bewegte mich sehr.

Mein Fazit
Ein wunderbar geschriebenes Buch, das mich bewegte, berührte und begeisterte. Nicht nur, wegen des lebendigen Schreibstils, sondern weil es mir meine eigenen Familiengeschichte näher brachte.