Ein-Rutsch-Leseerlebnis

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"In all diesen Jahren waren ihre Knochen passend zueinander gewachsen, wie Puzzlestücke."

Lena und Oksana sind zwei 16-jährige Mädchen aus dem tristen (fiktiven) St.-Petersburger Vorort Krylatowo, die sich seit Kindertagen alles teilen: Schulbank, Essen, Bett. In letzterem gehen sie weiter, als gewöhnliche Freundinnen das tun würden. Doch als Lena für eine Modelagentur gecastet wird und nach Shanghai ausreist, um ein vermeintlich glamouröses Modelleben zu führen, bleibt Oksana in ihrem Kummer allein zurück. Sie begibt sich in die Fänge einer fanatischen Internetgemeinde, die nach dem "Vorbild" der Leningrader Blockadeopfer hungert.

In ihrem ersten belletristischen Werk wagt sich Wlada Kolosowa an große Themen heran: Erwachsenwerden, Liebe, Homosexualität, Einsamkeit, Kummer, russische Geschichte und die Tücken des Internets. Und wie ihr die Umsetzung dieser Themen auf etwas mehr als 200 Seiten gelingt, ist bewundernswert. Oksana und Lena sind Mädchen, fast schon junge Frauen, die beide für ihren Körper gehänselt werden. Oksana für ihren "dicken Hintern", Lena als "Bandwurm" oder "Rechen", weil sie so dünn und flach ist. Doch genau diese Körpermerkmale verhelfen Lena aus der tristen russischen Vorstadt hinaus - hinein in ein anderes, noch tristeres Leben, bestimmt von Einsamkeit und Missbrauch. Oksana meint, etwas gegen ihre vermeintliche Fülle unternehmen zu müssen und meldet sich für die Leningrad-Diät an - nur noch essen, was die Blockadeopfer von 1941-1944 zu sich genommen haben.

So entstehen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber immer durch die Gedanken an die jeweils andere miteinander verbunden sind. Früh wird klar, dass die Mädchen miteinander sexuell aktiv waren, doch während Oksana das als "echt" einstuft und sich selbst eingesteht, sieht Lena es als Phase, als Experimentieren. Sie können nicht ohne einander, in der russischen, homophoben Welt können sie aber auch nicht miteinander. Und so suchen sie sich beide Ausflüchte bei den Männern, Oksana in aufrichtiger Form bei dem Gopnik Mammut, Lena der Aufträge wegen bei einem Fotografen. Das Zerissensein zwischen dem, was glücklich macht, dem, was gesellschaftlich akzeptabel ist, und dem, dem sie sich nicht widersetzen können, durchzieht das ganze Buch. Es ist eine kluge Geschichte über die Liebe, über menschliche Nähe und aufrichtige Freundschaft.

Schrecklich hingegen ist die Realität, in der sich Lena bewegt. Shanghai, Modeln, Geld verdienen. Das klingt gut, das klingt sogar ausgezeichnet. Doch was sie erwartet sind Unterdrückung, Missbrauch und ständiges Bibbern in kalten Hallen, ohne am Ende den Job zu bekommen. Rafik, ihr Modelagent, lässt sie nach ihrer Ankunft nicht mal aufs Klo gehen und "vermietet" seine Mädchen gerne an zahlende chinesische Kunden. Das bessert immerhin ihr sonst spärliches Einkommen auf, denn sonst wären sie ja ein Minusgeschäft für die Agentur, was den jungen Frauen und Mädchen (manchmal erst 14 Jahre alt!) auch immer wieder unter die Nase gerieben wird. Lenas Ernährung besteht aus Instantnudeln, Jobs bekommt sie nur aufgrund ihres Verhältnisses mit einem Fotografen. Wir tauchen in Lenas Abschnitten ein in das schmutzigste Shanghai, in die Abgründe des Modelbusinesses und in ihre tiefe Einsamkeit.

Oksana geht es zuhause im winterlichen Krylatowo nicht unbedingt besser. Sie meldet sich in einem Anfall von Kummer und Selbsthass bei der zynischen, menschenverachtenden Diätwebsite leningrad-diet.ru an und will sich fortan nur noch von 125g Brot pro Tag und den Blockadegerichten ernähren. Das hält sie glücklicherweise mehr schlecht als recht durch, denn Tapetenkleister-Gelee und Ledersuppe gehen ihr einfach nicht runter. Doch in der Community entwickelt sich ein gefährlicher Sog, Likes werden wichtiger als Menschenleben. Man kann den Userinnen, die teilweise unter 30kg wiegen, fast schon beim Sterben zuschauen. Und dieses krankhafte Essverhalten, die schrecklichsten Formen der Magersucht werden noch befeuert durch Threads wie "Motivation" oder durch Strafen für einen Teller Bratkartoffeln, den die Eltern dem Mädchen aufgezwungen haben. Das Schrecklichste an dieser ganzen Sache ist in meinen Augen der historische Hintergrund, der hier schändlich missbraucht wird (Argument: Die Toten stört das ja nicht mehr. Die Userinnen feiern sich sogar selbst als Heldinnen.). Oksana liest viel über die Leningrader Blockade, spricht mit einer Augenzeugin und berichtet der Community über ihr Wissen. Sie steigt zur Geschichtsexpertin auf und wird überschüttet mit Likes, Kommentaren, Herzchen. Auch für den Leser sind diese Geschichtsstunden hochspannend, zumal sie wie Puzzlestücke an die richtigen Stellen im Buch fallen. Die Autorin hat Plot und Historie sehr gekonnt verknüpft.

Etwas unbefriedigt lässt mich allerdings das Ende zurück. Was ist da passiert zwischen Lena und Oksana? Ich hätte gerne etwas mehr Aufklärung gehabt, für mich läuft "Fliegende Hunde" zu unausgefochten ins Leere.

Der Roman war für mich ein Ein-Rutsch-Leseerlebnis, das mich bis spät in die Nacht wachgehalten hat. Die Perspektivwechsel erzeugen einen Sog und eine Dynamik, der man sich nicht wiedersetzen kann, und belohnt wird man mit einer außergewöhnlichen Geschichte über junge Liebe und Freundschaft und darüber, was Heimat und Leben überhaupt bedeuten. Ein etwas pointierterer Schluss wäre für eine solche Geschichte allerdings wünschenswert gewesen. Daher "nur" 4 von 5 Sternchen.