Das Leben ist ein langer, zäher Fluss

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Margrit hat ein fast biblisches Alter von 102 Jahren erreicht. Sie lebt in einer Hamburger Seniorenresidenz. Ihre körperlichen Gebrechen halten sich in Grenzen, auch im Kopf ist sie noch recht fit, wenn ihr auch manchmal Namen, Zeiten und Orte zu entgleiten drohen. Mit dem Römischen Garten am Elbhang in Blankenese verbindet sie eine lange Beziehung, noch heute lässt sie sich vom 24-jährigen Fahrer Arthur täglich dorthin chauffieren, um in Gedanken und Erinnerungen zu verweilen. Margrits Sohn lebt mit neuer Familie am anderen Ende der Welt. Regelmäßigen familiären Kontakt hat Margrit nur zur 18-jährigen Enkeltochter Luzie, die ihr Leben zwar noch vor sich hat, aber im Moment in einer Sackgasse gelandet ist.

Der Roman findet an zwölf Juni-Tagen an der Elbe und in Hamburg statt. Erzählt wird im Wesentlichen aus drei Perspektiven: Margrit, Luzie und Arthur. Die beiden jungen Leute sind Margrits Anker in der Gegenwart. Ansonsten driftet sie oft in die Vergangenheit ab. Früh hat sie den Vater verloren, zwei Kriege und die daraus resultierende Not erlebt, Ehe, späte Mutterschaft, ein Berufsleben als Logopädin. Eine Verbindung zu ihrer eigenen Mutter bildet der Römische Garten, den die Jüdin Else Hoffa einst anlegte, mit der Margrits Mutter eine kurze Zeit des Glücks erlebte, bevor Else vor den Nazis fliehen musste. Die Biografie Hoffas nimmt einen relativ breiten Raum ein.

Enkeltochter Luzie ist mit ihren 18 Jahren ein Gegenentwurf zur Margrit, doch ein Au-Pair-Aufenthalt in Australien, der noch weitere zwischenmenschliche Enttäuschungen nach sich zog, hat sie komplett aus der Bahn geworfen. Luzie ist sehr empfindsam geworden. Sie weicht menschlicher Nähe aus und beabsichtigt, Tätowiererin zu werden. Margrit stellt sich trotz ihrer Vorbehalte als Probandin zur Verfügung. Sie hofft, auf diese Weise Zugang zu ihrer Enkelin zu bekommen, die offensichtlich Hilfe braucht. Auch Arthurs Leben hat durch einen schweren Verlust eine große Zäsur erlitten. Die jeweiligen Details der Verletzungen kommen nach und nach ans Licht.

Ich bin den Gedanken der Protagonisten meist sehr gern gefolgt. Margrit resümiert sehr glaubwürdig über die Malaisen des Alters, über die ablaufende Zeit und über den bevorstehenden Tod. Mit großer Beobachtungsgabe und lebensklugen Sätzen setzt sie sich mit ihren Mitbewohnern auseinander, die sich alle nicht mehr ganz ernst nehmen. Ebenso werden die beiden jungen Leute, die sich neben ihren persönlichen Problemen zunehmenden Umwelt- und Klimakrisen gegenübersehen, anschaulich beleuchtet. Auch das Leben noch vor sich zu haben, kann bedrückend sein, Die dazwischenliegende Generation wird weitgehend ausgespart. Es geht Hagena bewusst um Alt und Jung, um die Kontraste und unterschiedlich gelagerten Herausforderungen.

Begleitet wird die Erzählung mit wunderschönen Naturbeschreibungen und-metaphern. Hervorzuheben sind die poetischen Texte, die jedem der 12 Tage voranstehen und eine ganz eigene Stimme beherbergen, die sich erst am Ende zu erkennen gibt. Auf der sprachlichen Ebene punktet die Autorin ungemein, auch wenn sie dem Leser manchen Seufzer, manch zugeworfenen Blick besser erspart hätte. Dasselbe gilt für in meinen Augen überflüssige Nebenplots (z.B. Else Haffa, Ukrainekonflikt oder Maulwurfjagd), die die Haupthandlung gar nicht nötig hat. An dem Tattoostudio in der Seniorenresidenz habe ich mich indessen nicht gestört. Hier sehe ich das Symbolische, den Wunsch der alten Menschen, ihr gelebtes Leben sichtbar zu machen. Überhaupt findet man neben den Flusslinien eine reichhaltige Symbolik in diesem latent melancholischen Familienroman, der mit seinen stimmungsvollen Schauplätzen, philosophischen Einschüben und einer bemerkenswerten Schlussszene aufwartet.

Man muss sich dieses Buch wie einen schwerfällig, aber stetig fließenden Fluss vorstellen, der die Lebenslinien der Protagonisten in sich trägt und erzählt. Wer rasante Handlungsbögen erwartet, könnte enttäuscht werden. Ich bin dem Geschehen überwiegend sehr gern gefolgt. Empfehlen möchte ich auch das von Ruth Reinicke, Chantal Busse, Jesse Grimm und Julia Nachtmann eingelesene Hörbuch. Alle Stimmen passen zum Text und interpretieren ihn sehr überzeugend und unaufdringlich.

Wer einen ruhig voranschreitenden, entschleunigenden Roman mit sympathischen Charakteren sucht, sollte hier zugreifen.