Enorme erzählerische Kraft mit unterschiedlich starken Figuren

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Eine 102-jährige Frau in der Pension, die sich irgendwie über die Welt wundert und doch im Reinen mit ihr ist.
Ein junger Mann, der sie rüpelhaft-charmant umherfährt und Sprachen erfindet.
Eine Enkelin, die ein Geheimnis hütet und zu sich selbst finden muss.
Margrit, Arthur und Luzie. Geschichten in Geschichten, Schweigen in Sprache und Sprache in Schweigen.

Wenn ich an meine Leseerfahrung denke, dann habe ich zwei Gedanken:
Wow, was für eine wahnsinns-Kraft in dieser Erzählung steckt. Wie wunderschön auf den Punkt die Autorin von ihrer Welt, ihren Charakteren erzählt, wie sehr man sie gern einfach erzählen und erzählen lassen möchte.
Und: Die Charaktere sind vielschichtig, toll, interessant, originell, aber nur zum großen Teil. Und dieser eine Teil hat sehr viel Raum eingenommen, sodass alles, was sich anfänglich aufgebaut hat, einen Dreh bekommen hat, der mir, ja, einfach nicht so richtig schmecken mochte.

Denn Margrit, eine weltgewandte und gleichzeitig in sich ruhende Persönlichkeit hat so viel Witz und Charme. Sie ist nicht nur der Katalysator für eine andere, noch (gewissermaßen) größere Geschichte, sie hat eine wunderbare Dynamik zu der Welt um sie herum. Sie hat insbesondere eine wunderbare Dynamik zu Arthur, kontert seine schwarz humorigen, bissigen Bemerkungen und nimmt unaufdringlich viel Raum ein.
Arthur ist ein - scheinbar - völlig unbekümmerter und liebenswürdig-dreister Mann mit sehr spezifischen Interessen. Er erfindet Sprachen, eine Sprache ist Sigé - das Schweigen. Passenderweise, denn das Aufbrechen von Schweigen ist ein großes Thema in diesem Roman.
Während diese zwei Figuren also für mein Empfinden vielschichtig und, vielleicht auch in ihrer Gewöhnlichkeit, außergewöhnlich waren, konnte ich dieses Urteil Luzie, der Enkeltochter mit schwerwiegenden Erfahrungen, leider nicht zusprechen.
Luzie war für mich die Blaupause eines Instagram-Teenagers. In ihrer Sprache, ihren Ansichten, ihren Handlungen. Und dabei klammere ich alle destruktiven Handlungen aus, die sich aus ihren traumatischen Erlebnissen ergeben haben.
Denn ja, das ist ihr Thema. Sich einer Welt zu öffnen, in der sie aufs Tiefste verletzt, gedemütigt, entwürdigt wurde.
Dennoch, ich konnte mich nicht dem Gefühl entziehen, dass ich Luzie kenne. Hunderte und tausende Male. Wenn ich Social Media öffne, dann ist da mindestens eine Influencer Luzie. Hoffentlich nicht eine, die ähnliche Erfahrungen machen musste, aber eine, die sich auf eine bestimmte Art verhält und spricht und ist.

Und das ist schade, angesichts der Tatsache, dass mir die anderen Figuren anfänglich völlig fremd waren, ich sie erst einmal kennenlernen musste und sie dann ins Herz schließen konnte, nicht das Gefühl hatte, von "so jemandem" schon ewig oft gelesen oder gehört zu haben.

Und da das Schweigen hier in so wundervoll umschriebener Art und Weise ganz viel Raum bekommt, mal bewertet wird, mal nicht, ist es für mich auch das Schweigen, die Stille, die leisen Momente, die dieser Erzählung ihre Kraft verleihen. Denn nochmal: Wow, Katharina Hagena kann erzählen und beschreiben und Situationen illustrieren, ohne überhaupt jemanden zu Wort kommen lassen zu müssen.