Im Rhythmus der Gezeiten

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rockchickdeluxe Avatar

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Als Surferin und Kind der Gezeiten bin ich sofort drin im Rhythmus von «Flusslinien». Der Roman spielt an 12 aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils geprägt vom Erscheinungsbild des großen Flusses vor dem Römischen Garten am Falkensteiner Ufer in Hamburg.

Das Buch folgt dem Spiel der Gezeiten, spielt mit dem Motiv der Flusslinien, der Flüsse der Unterwelt, dem Strom der Erinnerungen, dem Fluss des Lebens, den Linien von Tätowierungen und der Erdanziehung. Täglich wird der Schierlings-Wasserfenchel ein paar Stunden vom Süßwasser geflutet, das Leben ist aber bedroht von der Elbvertiefung.

Auch im Leben der drei Protagonist*innen Margrit, Luzie und Arthur gibt es äußere Einflüsse, die ihr Leben ins Wanken bringen. Margrit ist 102 und bereitet sich auf den Tod vor. Die einstige Stimmtherapeutin reflektiert ihr Leben und sinnt der Beziehung ihrer Mutter Johanne zu der großen Gärtnerin und Landschaftsarchitektin Else Hoffa nach, die den Römischen Garten anlegte. Jeden Tag sitzt sie dort und denkt an ihre Kindheit, den Krieg und ihre Männer.

Arthur sucht mit einer Metallsonde den Elbstrand ab, erfindet Sprachen, hat einmal getaucht, ist beim NABU und versucht, mit einer großen Schuld zu leben.

Margrits zornige Enkelin Luzie ist 18 und kämpft mit eigenen Dämonen und sucht, hin- und hergeworfen in den Wellen des Lebens, ihre eigene Stimme.

Es ist ein ruhiges Buch, getragen vom Schweigen und dem Versuch, eine eigene Stimme zu finden. In historischen Exkursen webt Katharina Hagena die Geschichte des Gartens in die Geschichte ihrer Figuren.

Die Sprache ist mal sezierend, mal pedantisch, manchmal ironisch und immer kraftvoll. Sind die Dialoge schnell und schlagfertig, folgen die Betrachtungen den inneren Stimmen und dem Rhythmus der Natur. Im Wechselspiel der Charaktere entsteht eine unglaublich starke Sogkraft.

Um in die Zukunft navigieren zu können, beginnen sie, sich den eigenen inneren Stimmen zu stellen, einander zuzuhören und Vertrauen zu fassen. So öffnen sich ungeahnte Türen und der Strom beginnt, sich zu glätten und mit neuer Energie zu fliessen.

Flusslinien erzeugt eine ganz eigene Energie und nimmt den Leser mit auf eine Reise. Dabei folgt er seiner ganz eigenen Struktur und verwebt die unterschiedlichen Gesichter der Elbe mit den vielen Facetten des Lebens. Denn das ist ja auch nie linear und hinter jeder Biegung kann sich alles verändern. Leise und unaufhaltsam.

Ich hab ein wenig gebraucht, um in den Roman zu finden, aber als es mir gelungen war, mich darauf einzulassen, hat das Lesen viel Freude gemacht. In den nächsten Tagen fahre ich in den Römischen Garten.