Anna Thalbach und Anne Stern lassen die 20er in Berlin lebendig werden.

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elke seifried Avatar

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Es geht mit einem fesselnden Prolog los, in dem die Prostituierte Rita zum Landwehrkanal bestellt wird und schon wenig später ihren letzten Atemzug tut. Den Fall soll Kriminalkommissar Karl North genauer unter die Lupe nehmen. Der würde Ritas Tod am liebsten ganz schnell als Selbstmord abtun. Allerdings lässt ihn ein Notizbuch, das er in Ritas Wohnung findet und kurzerhand verschwinden lässt, nicht mehr los und zudem hat er nicht mit Hulda, der rund um den Bülowbogen bekannt und beliebten Hebamme, gerechnet, die nicht nur ihren Frauen vor, bei und nach der Geburt vertrauensvoll zur Seite steht, sondern auch sonst nicht einfach wegsehen kann, wenn Unrecht geschieht, oder ihre Hilfe benötigt wird.



Während man als Leser Hulda bei ihrer Arbeit als Hebamme begleiten darf, stolpert man mit ihr zunehmend in die Aufklärung des Mordes. Dass das nicht nur einmal mehr als gefährlich wird, muss ich wohl nicht erwähnen. War es ein enttäuschter Freier, ihr Zuhälter, der Nachbar, mit dem sie kurz vorher noch Streit hatte, oder findet sich die Lösung eher in dem Notizbuch, in dem Karl mehr liest, als zu ermitteln? Klar, dass sie sich bei den Nachforschungen über den Weg laufen müssen. Werden sich die beiden zusammentun, um den Mörder zu finden? Das wird genauso wenig verraten, wie was aus Hulda und ihrem Ex-Freund, dem Cafehausbesitzer Felix Winter wird, denn beide haben noch längst nicht ganz abgeschlossen oder ob ein Karl nach seinen schrecklichen Waisenhauserfahrungen, vielleicht doch noch Gefühle zulassen kann, und so eventuell sogar ein guter Ersatz für Felix wäre.



Anne Stern ist eine tolle Zeitreise gelungen. Durch Huldas Tätigkeit als Hebamme im Scheunenviertel darf man in zahlreiche Hinterhöfe blicken und so nicht nur ihre Arbeit zu der Zeit, sondern auch die Armut hautnah miterleben. Deutlich spürbar ist stets auch, dass der Erste Weltkrieg längst noch dunkle Schatten wirft. Von der politisch unruhigen Zeit und Aufständen erfährt man nicht nur durch die Zeitungen an Berts Kiosk, man flaniert mit ihr an Berliner Schauplätzen, hält einen Ratsch neben dem Drehorgelspieler und stürzt sich auch ins schillernde Nachtleben, alles was eben dazugehört zum Leben im Berlin der 1920er Jahre. Zudem wird klar berlinert und das setzt die Sprecherin, als Krönchen des Ganzen, dann in ihrem atmosphärisch dichten, lebendigen Vortrag, noch mehr als gekonnt in Szene.



Die Autorin, unterstützt durch Sprecherin Anna Thalbach, macht das Leben in Berlin der 1920er Jahre hier regelrecht lebendig. Sie beschreibt super anschaulich, verleiht ihren Mitspielern viele authentische Details und verwendet jede Menge Vergleiche und malt so ein grandioses Bild. Ich hatte das Gefühl selbst mit in Berlin sein zu dürfen. Anne Sterns Sprachstil ist kurzweilig, amüsant und bietet immer wieder Anlass zum Schmunzeln und Grinsen. Gefühlvolle Beschreibungen und atmosphärisch, dichte Szenen, die zu bewegen und zu schockieren vermögen, sorgen dafür, dass man richtig mitfiebern und mitleiden kann. Zudem darf man hier sehr viel rätseln, denn sie wartet nicht nur mit zahlreichen Verdächtigen, sondern auch einigen Geheimnissen und vielen Überraschungen auf, und vermag so zu fesseln.



Die Charaktere sind grandios gezeichnet. Die resolute Hulda, die als alleinstehende Frau ihren Mann steht und nie um eine kecke Antwort verlegen ist, hat mich sofort völlig von sich eingenommen. Sie ist selbstlos, verzichtet schon auch mal auf die Bezahlung, wenn es um das Wohl von Mutter und Kind geht. Sie muss man einfach mögen. Während man sie manchmal am liebsten zurückhalten würde, weil sie sich leichtsinnig in Gefahr begibt, hat man beim geheimnisvollen Karl, der ein schweres Päckchen aus der Vergangenheit zu tragen hat, vor allem anfangs eher das Gefühl ihn anschubsen zu müsssen. Zu den zwei Ermittlern kommen facetten- und abwechslungsreiche, sowie authentische und mit viel Liebe erschaffene Nebenfiguren hinzu, bei Kioskbesitzer Bert, der sich stets um Huldas Herzensangelegenheit sorgt und die gute Seele des Wohnviertel ist, angefangen, über Felix, die verflossene Liebe, der so sehr unter dem Pantoffel seiner Mutter steht, bis hin zu Huldas Zimmerwirtin Frau Wunderlich, die mich mit ihren Befürchtungen wegen des Radfahrens und auch ihrer neugierigen Art nicht nur einmal zum herzhaft Lachen gebracht hat.



Schon allein die Tatsache, dass ich total vernarrt bin in Anna Thalbach als Hörbuchsprecherin, hat mich zugreifen lassen und sie hat mich einmal wieder völlig begeistert. Hörgenuss vom allerfeinsten. Mit ihrer herrlichen Berliner Schnauze ist sie natürlich auch geradezu prädestiniert für diese Geschichte. Hulda, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt, die nie um eine schlagfertige Antwort verlegen ist, wird von Anna Thalbach genau das passende Leben, samt gehöriger Portion Authentizität eingehaucht, könnten sich die beiden doch diesbezüglich auch nicht ähnlicher sein. Klar, dass auch der Berliner Dialekt nicht besser als von jemandem wie ihr zum Ausdruck gebracht werden könnte. Anna Thalbach vermag durch geschickte Tempowechsel, durch pointiert, betontes Vortragen auch ganz vorzüglich die besonderen Merkmale eines jeden Nebendarstellers herauszustellen. Habe ich so z.B. jetzt noch die Haarbüschel des einen Hausgastes deutlich vor Augen. Dass sie ebenso für einen jeden eine ganz eigene Tonlage parat hat, tut sein Übriges dazu, dass man hier beim Hören keinerlei Probleme hat, alle auseinanderzuhalten. Ich weiß schon, warum sie zu meinen absoluten Lieblingssprecherinnen gehört und da hat sie sich jetzt definitiv den ersten Platz ergattert.



Alles in allem völlig begeisterte fünf Sterne, sechs gibt es ja leider nicht, und eine absolute Kauf- und Hörempfehlung.