Atmosphäre top, Handlung Flop

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Die Gestaltung von Anne Sterns »Fräulein Gold« ist absolut gelungen, es schreit förmlich 1920er-Jahre. Auch die Kapitelüberschriften weisen eine passende Schriftart auf. Wirklich ein Augenschmauß. Inhaltlich empfinde ich es als nicht ganz so perfekt wie äußerlich.

Hulda Gold erhält als Hebamme Einblick in das Leben vieler unterschiedlicher Menschen und wird so eher zufällig in den Todesfall einer Prostituierten hineingezogen. Sie fängt auf eigene Faust an zu ermitteln und kreuzt dadurch den Weg des leitenden Ermittlers, Kommissar Karl North.

Hulda radelt als Protagonistin durch das Berlin 1922 und sieht sowohl die Elendsviertel als auch die wohlhabenderen Gegenden. Sie ist ein "spätes Mädchen", also mit Mitte 20 noch allein stehend und empanzipiert. Ihre Freiheit und die Möglichkeit, in ihrem Beruf voran zu kommen, ist ihr sehr wichtig. Während Sie sehr vielschichtig angelegt ist, erfährt man über die Persönlichkeit des Kommissars in diesem ersten Band einer Reihe eher wenig, abgesehen von seinen persönlichen Verbindungen zu dem Fall. Und das, obwohl auch aus seiner Perspektive erzählt wird. Die Zwei sind in meinen Augen leider sehr unsympatisch, ich wurde bis zum Schluss nicht wirklich warm mit ihnen. Da werden Hunde getreten, harte Drogen genommen und im Café wird einfach nicht bezahlt. Hinzu kommt, dass ihnen so etwas wie Zuneigung zu einander angedichtet wird, obwohl sie sich tatsächlich kaum kennen lernen und sich nicht wirklich leiden können. Lieb gewann ich eher die Nebenfiguren und die verstorbene Rita, über die wir durch Tagebucheinträge mehr erfahren. Die Handlung lässt auch ein wenig zu Wünschen übrig, denn die gute Hulda hat irgendetwas an sich, das jeden um sie herum dazu bringt, ohne große Umschweife alle Geheimnisse auszuplaudern, was keine große Spannung produziert.

Allerdings kommen wir an diesem Punkt zu den Dingen, die die Autorin wirklich beherrscht. Anne Stern studierte Geschichte und Germanistik, das merkt man. Ihr wunderbarer Schreibstil sorgte dafür, dass ich trotz des schwächelnden Plots gerne am Ball blieb. Sie lies die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und das historische Berlin grandios vor meinem inneren Auge aufleben. Kleine Details sorgten für fantastische Atmospäre. Die Schwierigkeiten der Frauen in der damaligen Zeit, vor allem schwangerer Frauen, die schlimme Behandlung von psychisch Kranken und die grassierende Armut im Land nach Kriegsende sind zentrale Themen, die mich wirklich bewegt haben. Diese Zeitspanne ist literarisches Neuland für mich aber aus meiner Perspektive kann ich das Buch vor allem denen empfehlen, die historisches Interesse haben oder sich für die Themen Schwangerschaft und die Arbeit von Hebammen begeistern. Für einen spannenden Kriminalfall würde ich eher zu anderen Werken raten.