Ein ganz großer Wurf: Goldene und großartige Lesestunden mit Fräulein Gold

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Fräulein Hulda Gold, selbstbewusste und unabhängige Hebamme in Berlin-Schöneberg, beginnt, fasziniert von dem Mord an der Nachbarin einer ihrer Wöchnerinnen, ihre eigenen Ermittlungen. Dabei lernt sie nicht nur einen attraktiven Kommissar kennen, sondern gerät auch in gefährliche Situationen.

Fräulein Gold hat mir goldene Lesestunden beschert. Der Roman ist einfach richtig, richtig gut – und das in jeder Hinsicht.

Es beginnt mit der sehr üppigen und dichten Handlung. So ist der Kriminalfall äußerst spannend und das Gewirr von möglichen Spuren, das sich während Huldas Ermittlungen auftut, so undurchdringlich, dass sich einem die Zusammenhänge nicht vorzeitig erschließen – wie es sich für einen guten Krimi gehört. Neben der Krimihandlung fesselte mich besonders die zarte Liebesgeschichte zwischen Hulda und Karl North sehr, die - unglaublich erfrischend - so ganz ohne Klischees auskam. Das findet man eigentlich kaum noch.

Diese überzeugende und mitreißende Schilderung einer beginnenden Beziehung ist nur möglich, weil die Figuren von Hulda und Karl ausgezeichnet konzipiert sind. Sie sind komplex, haben durchaus charakterliche Schwächen und trotz aller Innensicht, die immer wieder ermöglicht wird, gelingt es dem Leser nicht immer Handlungen und Reaktionen vorauszusehen oder zu verstehen und das ist sehr gut so. Besonders Hulda ist vorzüglich gelungen und die Identifikation mit ihr fällt leicht, da sie durch ihren Beruf und ihren Lebensstil sich eher unserer heutigen Vorstellung der Frauenrolle anpasst, ohne jedoch aus ihrem zeitlichen Handlungskontext zu fallen, denn es gab schon einige unabhängige, „neue“ Frauen in den 20ern. Das Resultat der geglückten Figurenzeichnung sind authentische, sehr menschliche Romanfiguren, die so wirklichkeitsgetreu ausgestaltet sind, dass es mich nicht wundern würde, wenn ich bei einem Berlin-Besuch Fräulein Hulda treffen würde – ich weiß ja, wo sie wohnt. Und auch der Kioskbesitzer Bert z.B. ist für mich eine Figur, die ich gern kennenlernen würde.

Überhaupt ist dies eine der ganz großen Stärken des Romans: die Authentizität der Figuren, der Zwanziger Jahre, des Hebammenwissens, des historischen Kontexts, der Folgen des Ersten Weltkriegs, der Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen (die damals noch nicht so hießen) bilden zusammen mit der Kulisse Berlins ein fulminantes, realistisches Leseerlebnis, das manchmal vergessen lässt, dass es die Personen des Romans nicht gegeben hat. Meiner Meinung nach gibt es fast keine größere Errungenschaft seitens eines Autors, als den Leser dazu zu bringen, an die Welt und die Figuren seines Romans zu glauben und das hat Anne Stern auf hervorragende Weise erreicht. So hinterlässt der Roman bei mir das Gefühl die Nachbarschaft um den Winterfeldtplatz nun bestens zu kennen. Durch den Roman war ich quasi im Berlin der 20er live dabei.

Doch die beste Handlung und die wunderbarsten Figuren wären nichts ohne die Sprache, die sie zum Leben erweckt. Und auch hier war der historische Roman von Anne Stern ein echtes Erlebnis. Oftmals kann es bei historischen Romanen gerade sprachlich etwas hapern oder die Erzählung gerät zu hölzern, weil sich der Autor zu sehr darauf konzentriert, die historischen Fakten abzuarbeiten. Bei Fräulein Gold wird jedoch auch sprachlich hervorragend abgeliefert. Das „Literarische“ kommt hier keinesfalls zu kurz. So überrascht der Roman mit einer wirklich ausgezeichneten Sprachebene, mit fantastischen Beobachtungen und Details, die immer wieder überraschen und Formulierungen, die das Lesen zu einer wahren Freude machen.

Fräulein Gold ist für mich bisher DER historische Roman des Jahres (der zweite Teil erscheint im Herbst – da kann also noch etwas kommen). Er ist sprachlich ausgereift, entwirft ein authentisches und überzeugendes Bild der 20er, wartet mit viel Berliner Lokalkolorit auf, hat liebenswerte und lebensechte Figuren und ist einfach ein großer Lesegenuss für alle. Abschließend habe ich nur noch einen Wunsch: Fräulein Gold sollte verfilmt werden!