Starker Auftakt

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hasirasi2 Avatar

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Berlin 1922: Hulda Gold ist schon 26, unverheiratet und Hebamme im Bülowbogen im Stadtteil Schöneberg. Eine ihrer Schwangeren sorgt sich, weil ihre Nachbarin Rita (eine Säuferin und Hure) tot im Landwehrkanal gefunden wurde für die Polizei schon feststeht, dass es Selbstmord war. Hulda wiegelt ab, aber als sie den zuständigen Kriminalkommissar Karl North kennenlernt und hat sie auch das Gefühl, dass der in dem Fall gar nicht ermitteln will. Als sie erfährt, dass Rita Streit mit ihrem Zuhälter und ihm mit seiner Vergangenheit gedroht hatte, begibt sie sich selber in die Berliner Unterwelt und damit in Gefahr …

„Fräulein Gold: Schatten und Licht“ ist der Auftakt der Trilogie um die Hebamme Hulda Gold und den Kriminalkommissar Karl North und hat mich von Beginn an gefesselt. Es ist eine Symbiose der Hebammensaga von Linda Winterberg und der Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher. Man erfährt viel über die Arbeitsweise der Hebammen, bekommt man einen guten Einblick in die Polizeiarbeit, die politischen Entwicklungen und das Erstarken der Nationalsozialisten.
Autorin Anne Stern lässt das Berlin der 20er Jahre lebendig werden. Sie zeigt einerseits die Wunden, die der Krieg in die Stadt und ihre Bevölkerung gerissen hat, den täglichen Kampf ums Überleben, Frauen, die arbeiten gehen oder sich prostituieren müssen, hungernde Waisenkinder und andererseits das wilde Nachtleben mit Jazz, Alkohol, Koks und schnellen Sex mit Fremden – die vielen Varianten, wenigstens kurz den Krieg, Alltag, Hunger und die Sehnsüchte zu vergessen. Die Zeit ist schnelllebig und gefährlich. „Berlin war ein einziger Reigen aus Vergnügungen, Champagner und Zügellosigkeit, aus irrlichterndem Glitzern, Drogen, körperlicher Liebe, so viel man wollte. Doch am Ende bezahlte man immer dafür.“ (S. 317)

Anne Sterns Protagonisten haben Ecken und Kanten, eine Vergangenheit.
Rita hat in einem Irrenhaus vor den Toren Berlins gearbeitet. Lange war sie überzeugt, dass die Ärzte den Patienten mit den zum Teil sehr ungewöhnlichen Behandlungsmethoden helfen wollen, aber der Krieg und der Umgang mit den Versehrten und Kriegszitterern hat ihr die Augen geöffnet.
Hilda ist mutig, dabei manchmal etwas leichtsinnig, hilfsbereit, durchsetzungsfähig und lässt sich nichts verbieten. Sie liebt ihre Arbeit und ist trotzdem oft unzufrieden, weil gern mehr für ihre Patientinnen tun würde, aber nicht darf. „Ich kann schlecht wegsehen, bin mit meinen Gefühlen immer gleich dabei. Vielleicht hoffe ich, dass ich mich dadurch selbst erlösen kann.“ (S. 197) Sie hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich, kann den Mann aber immer noch nicht loslassen. Außerdem quälen sie nächtliche Albträume – ihre Mutter war psychisch krank und sie hat Angst, wie sie zu werden.
Karl ist ein Einzelgänger und hat Angst, dass jemand von seiner Herkunft erfährt, darum lässt er erst niemanden an sich heran. Er wird die Dämonen seiner grausamen Kindheit im Waisenhaus nicht los. Die Frage, warum seine Mutter ihn weggeben hat, ihn nicht lieben konnte, beschäftigt ihn sehr, er fühlt sich in seinem Leben fremd. „Er würde sich, egal wie hoch er die Karriereleiter noch emporsteigen würde, doch immer wie der kleine Waisenjunge fühlen, während sein Assistent schon jetzt so selbstverständlich auftrat, als gehöre ihm die ganze Welt.“ (S. 171) In Ritas Wohnung entdeckt er etwas, was ihn erschrickt und vielleicht seiner Herkunft näherbringen könnte – aber will er es wirklich wissen?

Hulda und Karl geraten bei der Aufklärung des Falls immer wieder aneinander. Sie hält ihn für unfähig und bequem, er sie für vorlaut, zickig und streitsüchtig. Und obwohl sie ihre Nachforschungen getrennt anstellen, kommen sie letztendlich zum gleichen Ergebnis. Zudem finden sie sich, geben das aber natürlich nicht zu.

Anne Stern schreibt sehr spannend, farbenprächtig, mitreißend – einfach grandios. Ich bin begeistert und will unbedingt wissen, wie es mit Hulda und Karl weitergeht, welche Fälle sie in Zukunft aufklären werden.