Es stinkt zum Himmel

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theresia626 Avatar

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Andrew Millers sechster Roman „Der Friedhof der Unschuldigen“ (im Original: „Pure“) spielt kurz vor der Französischen Revolution, im Herbst 1785, und erzählt die Geschichte des jungen Ingenieurs Jean-Baptiste Baratte. In Versailles bekommt er von einem Minister Ludwigs XVI. den Auftrag, den Friedhof der Unschuldigen beim großen Markt von Les Halles zu zerstören und die Leichen, bis zum letzten Knöchelchen, fortzuschaffen. „Kirche und Friedhof. Der Ort soll wieder lieblich werden. Verwenden Sie Feuer, verwenden Sie Schwefel. Verwenden Sie, was auch immer sie brauchen, um ihn loszuwerden.“ (S. 18) Es stinkt. Der Friedhof vergiftet die Stadt, weil ein halbes Jahrtausend lang Hunderttausende dort begraben wurden, genaue Zahlen kennt niemand. Wegen Überbelegung musste er vor fünf Jahren geschlossen werden. Die 14jährige Jeanne, die mit ihrem Großvater, dem Küster, in der Kirche lebt, zeigt Baratte die Privatgrüfte und Armengräber und später, in seinem Zimmer bei den Monnards, beginnt er zu rechnen. Dreißig kräftige Männer benötigt er für den Friedhof und ebenso viele für den Abriss der Kirche, Pferde, Wagen und Bauholz. Später wird er begreifen müssen, dass es mit mathematischen und physikalischen Berechnungen nicht getan ist und er bei der Durchführung des Projekts mit ganz anderen Problemen konfrontiert wird. Auch utopische Ideale helfen nicht, wenn es darum geht, sich bei seinen Untergebenen durchzusetzen.

Baratte, der aus Bellême in der Normandie stammt, träumt davon Brücken zu bauen, die die Seine, die Orne, die Loire überspannen. (S.56) Die Umbettung zigtausender Leichen und der Gestank der Toten ist für ihn eine harte Bewährungsprobe. Bald merkt er, dass auch der Atem der Bewohner verpestet ist und das Essen der Monnards bleibt rätselhaft ungenießbar. Der anfangs naive, fortschrittsgläubige Protagonist entwickelt sich vom jungen Ingenieur aus der Provinz zu einem gestandenen Mann, der begreift, dass nicht alles an der Vergangenheit wertlos ist und aufgegeben werden sollte. Als er mit seiner grausigen Arbeit beginnt, erlebt er am eigenen Leib, dass die Bewohner eine sehr enge Bindung zu dem Friedhof haben und sein Ansinnen nicht unterstützen. Seine ärgste Feindin ist Ziguette, die Tochter der Monnards, die eines Nachts einen Anschlag auf ihn verübt, den er schwer verletzt überlebt. Unterdessen entwickelt sich für die flämischen Arbeiter die Arbeit in den bis zu zweiundzwanzig Meter tiefen Gruben zur Hölle. Die psychische und physische Belastung ist groß.
Den Cimetière des Innocents (dt. Friedhof der Unschuldigen) hat es wirklich gegeben. Er war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der größte innerstädtische Friedhof von Paris und erhielt seinen Namen von der ehemals benachbarten Kirche "Aux Saints-Innocents". Der Friedhof war schließlich - zum Beispiel durch Pestepidemien mit bis zu 50.000 Toten innerhalb weniger Wochen - so überfüllt, dass die mit bis zu tausend Leichen gefüllten Gruben Häuser zum Einsturz brachten und die Luft im ganzen Viertel verpesteten. Für Fans historischer Romane empfehlenswerte Lektüre, vor allem auch, weil der Autor sich viel Zeit für eine sorgfältige Charakterisierung nicht nur seines Protagonisten, sondern auch verschiedener anderer Figuren nimmt, zum Beispiel des Organisten der Kirche oder des Arztes Dr. Guillotin. Miller zeichnet ein anschauliches Bild der Schauplätze, des Friedhofs, des Lebens auf den Märkten, des luxuriösen Theaters und lässt viel Lokalkolorit einfließen. Wer dafür Sinn hat, wird belohnt.