Friedhof der Unschuldigen

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aoibheann Avatar

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Im Jahr 1785 wird dem jungen Ingenieur Jean-Baptiste Baratte im Schloss von Versailles von höchster Stelle ein Auftrag erteilt: Er soll den Friedhof der Unschuldigen demolieren, der, mitten in Paris gelegen, Hunderttausende von Toten beherbergt und dessen üble Ausdünstungen die Stadt langsam vergiften. Baratte, ein linkischer, ehrgeiziger Provinzler, Anhänger Voltaires und dem Fortschritt zugewandt, quartiert sich direkt neben dem Friedhof bei der Familie eines Messerschmiedes ein. Er heuert einen Trupp Arbeiter aus Flandern an, unheimliche, genügsame Arbeitstiere, die die Skelette ausgraben und bei Nacht und Nebel wegkarren. Er schließt Freundschaft mit dem weltgewandten Organisten der verlassenen Kirche, der den Fledermäusen Bach vorspielt und ihn in die Halbwelt von Paris einführt. Die Enkelin des Küsters verschaut sich in ihn, doch er hat nur Augen für die schöne Prostituierte Héloise, genannt die Österreicherin, weil sie der Königin ähnlich sieht. Und während der freundliche Arzt Guillotin gern den Friedhof aufsucht, um die Zersetzung der Leichen zu studieren, mehren sich die bedrohlichen Vorkommnisse.

"Friedhof der Unschuldigen" ist eine gelungene Mischung aus Fakt und Fiktion. Die düstere Grundstimmung zieht sich durch das gesamte Buch wie ein roter Faden.
Erstaunlich ist, dass sämtliche häufig auftretenden Personen dem Leser auf eine bestimmte Weise unbekannt bleiben. Bis auf einige wenige Beschreibungen von Herkunft und Äußerlichkeiten. Jean-Baptiste bildet sicherlich die Ausnahme, doch die vorhanden Informationen müssen zwischen den Zeilen herausgelesen werden. Er stammt aus ländlichen und einfachen Verhältnissen in der Normanie. Die Ingenieursausbildung konnte er nur durch einen Förderer beginnen. Er hält sich für weltoffen, muss aber im Laufe seines Parisaufenthaltes erkennen, dass dies nur bedingt auf ihn zutrifft (z.B. der Kauf des auffälligen grünen Anzugs). Eine gewisse Politikfremdheit kann ihm ebenfalls nicht abgesprochen werden, denn die bereits erkennbaren Vorzeichen der Revolution scheinen bei ihm nicht recht anzukommen (z.B. Lafosse Hinweis auf den Staatsbankrott; die Schmierereien an den Hauswänden; immer wieder die Erwähnung der Partei der Zukunft). Baratte ist oftmals unsicher über sich selbst, das Projekt, seine soziale Stellung. Dies wird auch im Cover des Buches aufgegriffen. Dies geht auch aus seinen Überlegungen über das Zusammenleben mit Héloise hervor (z.B. wird ihr Ruf seinem beruflichen Vorankommen schaden?) Am Ende jedoch ist erkennbar, dass Jan-Baptiste an seinem Auftrag gereift und gewachsen ist, was sowohl seine Persönlichkeit als auch sein Auftreten als Ingenieur betrifft. Er hat sich den für ihn so wichtigen Respekt der flämischen Arbeiter erlangt, und eingesehen, dass alte Freundschaften nicht unbedingt überdauern. Die Vergewaltigung der Enkelin des Küsters durch Lecour sowie dessen anschließender Selbstmord haben dazu beigetragen nicht nur in Träumerein zu leben.

Eine weitere wichtige Figur des Romans ist der Organist Armand. Über ihn und seine Hintergründe erfährt man sehr wenig, außer, dass er einst ein Findelkind war, sich seine Position erarbeitet hat und den bisher herrschenden Machtverhältnissen eher ablehnend gegenübersteht. Er ist Mitglied der Partei der Zukunft und für Jean-Baptist wichtiges Bindeglied zwischen seiner Aufgabe und den Einwohnern des Viertels. Er kennt offenbar alles und jeden. Auch wird er für ihn zu einem guten Freund und Vertrauten.

Als Jean-Baptist letztlich seine Arbeit auf dem Friedhof beendet hat und seinen Abschlussbericht in Versailles abgeben möchte, trifft er dort nicht wie erhofft den Minister. Er trifft schlichtweg niemanden an. Am Ende stolpert er ihn eine skurrile Szene, in der die toten Überreste eines Elefanten aus einer Remise gezogen werden. Eingangs wird erwähnt, dass das Tier als Geschenk des Königs von Siam an den französischen Hof kam. Der Tod des Tieres steht auch symbolisch für den Untergang des letzten herrschenden Königs.

Die Mischung aus Erzählung und wahren belegbaren Fakten, die diesem Roman zugrunde liegen, war interessant, angenehm und spannend zu lesen. So habe ich z.B. gezielt nach Informationen über die Umsetzung von Friedhöfen im Frankreich dieser Epoche gegoggelt und bin auf sehr interessante Geschichten gestoßen. Ohne den Anstoß dieses Buches wäre ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal auf die Idee gekommen dies zu tun.
Der Aufbruch ist durch die Seiten spürbar, ebenso die Unsicherheit und das Festhalten an bewärten Traditionen und Werten.