Symbolschwanger

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alasca Avatar

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Das Dach der Kirche Les Innocents wird eingerissen. „Sie werden den Himmel hineinlassen. Das ist die Zukunft!“ „Das“, sagt Jean-Baptiste, „ist eine Metapher.“

Mit der nüchternen Replik des Protagonisten ist das Thema dieses historischen Romans schon umrissen: Die Revolution wirft ihre Schatten voraus, und die Gemeinde der Idealisten, die an das Zeitalter der Vernunft glaubt, ist im Begriff, in den bevorstehenden blutigen Exzessen der Französischen Revolution ihre Unschuld zu verlieren. Miller fasziniert diese Zeit aus ähnlichen Gründen, aus denen Ilies sich mit dem Jahr 1913 auseinandergesetzt hat: Es ist der Vorabend eines blutigen, alles verändernden Ereignisses.

Jean-Baptiste Baratte ist ein zerrissener Held: Zwar glaubt er inbrünstig an seine Göttin Vernunft, sieht aber auch das Wilde im Menschen. Seine Aufgabe, die radikale Entfernung des überfüllten Friedhofs, der Gestank und Krankheit in den angrenzenden Vierteln verbreitet, strotzt nur so vor Symbolik: Das Alte soll dem Neuen, der Aberglaube dem Licht der Vernunft weichen. Der Auftrag des Ministers, den er nicht ausschlagen kann, befeuert seinen Ehrgeiz, und um ihn erfüllen zu können, heuert er mithilfe seines alten Freundes Lecoeur eine Horde flämischer Bergleute an. Die Arbeit ist hart, grausig und nichts für schwache Mägen – Tausende von Leichen und Gebeinen müssen ausgegraben und umgebettet werden, die Kirche abgerissen. Tag und Nacht brennen die Feuer auf dem Friedhof, um die Luft zu reinigen – ein Höllenszenario.

Im Verlauf der Arbeiten gerät Baratte an die Grenzen seiner Überzeugungen und Kräfte; von Lecoeur und den Utopien ihrer Jugend fühlt er sich entfremdet und von den Arbeitern isoliert - sie sind für ihn „rätselhaft wie Aale“. In der Bevölkerung stößt er auf ein Gemisch aus Ablehnung und Idealisierung, das ihn irritiert, und er ist sich zunehmend selbst ein Rätsel, denn „Die Hälfte der Zeit, so scheint es, weiß man nicht, was man denkt, was man will.“ Schließlich erhält Baratte einen lebensgefährlichen Schlag auf den Kopf, der ihm Migräne und Wortblindheit beschert, aber in anderer Hinsicht für plötzliche Klarheit sorgt: Endlich traut er sich, sich Heloise zu nähern, öffentliche Frau, leidenschaftliche Leserin und eine der überzeugendsten Figuren in diesem mit gut gezeichneten Charakteren bevölkerten Roman.

Nicht nur Baratte, auch Lecoeur und die Bergleute drohen unter der Last der morbiden Arbeit einzuknicken; täglich erhöhen sich die Schnapsrationen, die ausgegeben werden müssen, die Befindlichkeiten spitzen sich zu, bis Lecoeur beweist, dass „der Übergang zwischen Philosophie und Wahnsinn (…) fließend“ ist. Am Ende hat Baratte seinem Ehrgeiz abgeschworen und möchte nur noch „etwas Kleines“ arbeiten, „etwas, bei dem nicht Leute über ihn verfügen, die er nicht respektiert“.

Stilistisch bewegt der Autor sich auf hohem Niveau; seine Symbolik ist unmissverständlich. Durch die Verwendung des Präsens als Erzählzeit erzeugt Miller eine Unmittelbarkeit, die einen wie per Zeitmaschine in die Vergangenheit versetzt. Die Details der Arbeiten, der Logistik werden kenntnisreich geschildert, ebenso die angrenzenden Viertel und ihre Bewohner: Wir sind gefühlt vor Ort, und ich war nur froh, dass ich mir den Geruch von Les Innocents nur vorstellen und nicht riechen musste. Was mir außerdem angenehm auffiel, war das große Mitgefühl, das Miller in seiner Schilderung vom Mensch und Tier allen gequälten Kreaturen entgegenbringt, seien es Lasttiere oder Bergarbeiter.

Fazit: Symbolschwangerer, gehaltvoller, süffig zu lesender historischer Roman mit Anspruch. Wer „echte“ historische Romane mag, wird dieses Buch lieben.