Freundschaft und Liebe um 1900

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Ein Mädchenpensionat habe ich nie von innen gesehen, umso spannender waren die Einblicke in „Das Pensionat am Holstentor“, in das die Höheren Töchter Lübecks geschickt wurden. Allen voran begegne ich der aufgeweckten Nora, sie ist die Tochter eines Grafen, der jedoch – genau wie seine ihm Angetraute – eher mit Abwesenheit glänzt. Noras Bruder Henry fühlt sich für sie verantwortlich, er schickt sie trotz ihrer Widerstände ins Pensionat. Hier lernt sie Agnes, Lotte und Fanny kennen und bald freunden sich die Mädchen an, sie nennen sich die „Frühlingstöchter“.

Gesche Petersen, eine junge Lehrerin, stolpert direkt hinein in ihre Anstellung. Wäre da nicht zufällig der junge Graf (Henry) zugegen, wäre sie wieder weggeschickt worden, ihr Auftritt war im allzu wörtlichen Sinne zu schmuddelig.

Den ersten Teil der historischen Familiensaga, der in Lübeck spielt, habe ich mir von Jana Kozewa vortragen lassen, ihre facettenreiche Stimmlage bringt nicht nur die jungen Damen in ihrer Vielfalt gut zur Geltung, sie liest akzentuiert, sodass ich mich entspannt zurücklehnen und der Story meine volle Aufmerksamkeit widmen konnte.

Um Freundschaft und die ersten zarten Bande der Liebe dreht sich diese unterhaltsame Reise zurück in die Zeit um 1900. Die Standesdünkel sind allgegenwärtig, die Rolle der Frau ist fest verankert. Eine standesgemäße Heirat ist nicht nur selbstverständlich, nein. Nur diese ist gesellschaftlich akzeptiert. Sehr zum Missfallen von Nora, die sich zu Karl, einem jungen, einfachen Arbeiter, hingezogen fühlt. Aber nicht nur sie stößt an ihre Grenzen, auch Henry und Gesche werden wohl aufeinander verzichten müssen. Ganz anders ergeht es Fanny, die dank eines Stipendiums hier aufgenommen wird. Und sie soll heiraten, die Internatsleitung stellt ihr zwar frei, den Antrag eines älteren Herrn abzulehnen, aber wo sollte sie hin, mittellos, wie sie ist?

Das Patriarchat ist deutlich spürbar, die gesellschaftliche Ordnung gut dargestellt. Nicht das erste Mal lese bzw. höre ich einen Roman mit diesem Hintergrund und immer wieder bin ich erleichtert, dass sich die Zeiten schon sehr zugunsten der Frauen geändert haben. Die gesellschaftlichen Konventionen sind vorgezeichnet, dieses gesellschaftliche Korsett ist eng geschnürt, Henry und Noras Mutter wäre daran beinahe zerbrochen. Ob sich die jungen Leute von damals daraus befreien konnten? Ihre Geschichte hat mich eingefangen, auch dank der exzellenten Sprecherin. Und es soll weitergehen, im Herbst 2023 erscheint der zweite Band, ich werde wieder auf sie treffen.