Wenn die Toten über uns wachen...

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"Vielleicht geben wir alle, was wir können, bis wir nicht mehr können, und dann treten unsere Lieben vor oder lassen andere eintreten. Vielleicht ist der Tod dazu da, die Hinterbliebenen herauszufordern."

Maddy ist tot - vom Dach der Bibliothekt gestürzt. Zurück bleiben viele trauernde Menschen, allen voran ihr Mann Brady und ihre Tochter Eve. Doch auch Maddy ist noch nicht weg. Aus kurzer Höhe blickt sie auf ihre Liebsten hinab und nimmt begrenzten Einfluss aus dem Jenseits. Im Grunde müssen Eve und Brady allerdings eines lernen - ohne Mutter und Ehefrau zurechtzukommen.

In "Für immer ist die längste Zeit" kommen alle drei Mitglieder der Familie Starling zur Sprache. Maddy berichtet uns aus dem Jenseits von ihrem Leben und von den innersten Gedanken der Menschen, die sie beobachtet - und das sind nicht nur Brady und Eve. Durch diese wunderbare Darstellung des Jenseits gelingt es Abby Fabiaschi, uns genau zu zeigen, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht. Gleichzeitig erleben wir hautnah, wie Eve und Brady trauern, wie sie sich selbst verurteilen und sich Vorwürfe machen. "Für immer ist die längste Zeit" ist kein Roman mit viel Handlung, dafür mit umso mehr Entwicklung. Wir können ganz genau nachvollziehen, was in Eves und Bradys Leben und Köpfen vor sich geht, und das erzeugt eine unheimliche Nähe zu den Figuren.

Die Erkenntnisse der Charaktere sind tiefschürfend, weise, und können, wenn sie an den richtigen Leser geraten, die Weltsicht verändern. Die Autorin vermittelt unverzichtbare Werte und Gedanken: Hinter und in einem Menschen steckt immer viel mehr, als wir auf Anhieb sehen. Wir müssen erkennen, dass wir immer die Möglichkeit zur Veränderung in uns tragen. Anerkennung, Wertschätzung, Vergebung und Liebe sollen unser Leben prägen und begleiten. Respekt muss in allen Beziehungen herrschen, auch von Eltern zum Kind. Mobbing ist widerlich. Und vieles, vieles mehr. Klar, diese Maximen kennt man sicher schon aus anderen Büchern und vielleicht auch aus dem echten Leben, aber die Autorin vermittelt diese Werte so überzeugend, ohne jeden Kitsch und jedes Klischee, dass sie sich noch viel wahrer anfühlen.

EInige Themen kehren in dem Roman immer wieder, insbesondere Mutter-Kind-Beziehungen. Teilweise wird das etwas überstrapaziert, als dann auch noch Bradys Mutter Geheimnisse hat, die aufgedeckt werden wollen. Auch das Thema Alkohol nimmt meiner Meinung nach einen zu großen Teil des Buches ein. So gut wie alle Figuren haben in irgendeiner Form Probleme damit, und es wird einfach zu viel getrunken. Das hat mir gar nicht gefallen. Allerdings wird das Thema der Trauer und der Aufarbeitung auf diesen knapp 350 Seiten so gekonnt umgesetzt, dass die Minuspunkte kaum noch ins Gewicht fallen. Da es in großen Teilen um Trauer, Tod und Vorwürfe geht, könnte man meinen, es handle sich auch um ein trauriges Buch, doch meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall. Schwarzer Humor ist an der Tagesordnung, und Maddys Eingriffe aus dem Jenseits haben etwas Tröstliches. Immer, wenn eine der Figuren ein "Bauchgefühl" oder eine "plötzliche Eingebung" hatte, war ich mir sicher, dass da Maddy am Werk war. Natürlich gibt es sehr traurige Stellen, und das ist auch wichtig. Gerade das überraschende, aber passende Ende birgt Potenzial für Tränen.

Ein Bestandteil, der in meinen Augen noch mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, war Maddys Tagebuch. Brady liest jeden Abend einen Eintrag, Eve liest es heimlich kreuz und quer durch. Ich hätte es als schönes Strukturelement empfunden, wenn auch der Leser mehr daran hätte teilhaben können, denn uns werden nur ausgewählte Einträge präsentiert. Das hätte der Erzählung noch mehr Durchschlagskraft und Dynamik verliehen.

"Für immer ist die längste Zeit" war für mich ein berührendes Leseerlebnis, das viele wertvolle Haltungen und Gedanken vermittelt. Sollte sich ein Trauerfall bei meinen Liebsten ereignen, so würde ich dieses Buch uneingeschränkt empfehlen. Und auch für mich wird es ein wertvoller Begleiter sein, um solche Situationen irgendwann einmal zu meistern. Aufgrund der kleineren Kritikpunkte vergebe ich 4 Sterne.