Die Stagnation der Zeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen!

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isleofharris Avatar

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Der Roman „Für immer“ von Maja Lunde entwirft ein beeindruckendes und zugleich beunruhigendes Szenario einer Welt, in der die Zeit plötzlich stillsteht. Die menschliche Entwicklung kommt hierbei zur Stagnation. Föten entwickeln sich nicht mehr, lebensbedrohliche Krankheiten, wie Krebs, verschlechtern sich nicht, niemand wird mehr geboren oder stirbt, niemand verspürt Hunger oder Durst. Von diesem neuen Zustand, der urplötzlich eintritt, ist die Natur jedoch ausgenommen. Sie unterliegt keiner Veränderung und geht ihren gewohnten Gang.

Eine Antwort für den Grund dieses neuen Zustandes, oder wie dieser abnorme Zustand wieder aufgehoben werden kann, hat niemand. Es kristallisiert sich heraus, dass unbegrenzte Zeit positive, aber auch negative Auswirkungen auf die Menschen haben kann. Auch wenn unheilbar kranken oder alten Menschen das Geschenk der unbegrenzten Zeit zuteil wird, entstehen parallel soziale Auswirkungen, die nach anfänglicher Euphorie in Sorge, zwischenmenschlichen Konflikten und Verzweiflung umschlagen.

Der beschriebene Zustand lässt wiederum Verschwörungstheorien entstehen. Könnte der Stillstand ein von den Behörden hervorgerufener Zustand sein, um eine bessere Kontrolle über das Leben der Menschen zu erlangen? Und sind nicht viele der Informationen nur erfundene Lügen, um die Menschen zu täuschen?

Der Plot konzentriert sich auf die Vielfalt der Perspektiven der Figuren. Die individuellen Reaktionen spiegeln eine breite Palette menschlicher Gefühle wider und beleuchten hierbei den Einfluss der Stagnation auf die einzelnen Beziehungsgefüge. Die Kapitel wechseln zwischen den verschiedenen Figuren und ihren Erfahrungen.
Jenny, die an Krebs erkrankt ist, genießt die ihr neu geschenkte Zeit, hat aber Schwierigkeiten, sie mit dem Familienleben und ihren wiederaufgenommenen Job als Fotografin in Einklang zu bringen. Margo und Otto, ein älteres Ehepaar haben vollkommen unterschiedliche Ansichten darüber, wie man mit der geschenkten Zeit umgehen sollte. Jakob und Lisa, ein junges Paar sorgen sich um ihr ungeborenes Kind und die Beziehung von Anne und Philip droht zu scheitern, da sich Philip intensiv den Verschwörungstheorien widmet.

Die dargestellten Beziehungen befinden sich sämtlich vor einem neuen Lebensabschnitt bzw. Lebensumbruch mit unausweichlichen Veränderungen, die mit unterschiedlichen menschlichen Gefühlen, Verhaltensweisen und Reaktionen einhergehen. Alle Beziehungen reflektieren die Umkehrung von Rollen; die Ehefrauen strahlen Kontrolle, Stärke, Besonnenheit und Führung, die Männer hingegen erscheinen ängstlich und unsicher und können mit veränderten Lebensbedingungen nicht gut umgehen.
Der unterschiedliche Umgang der Figuren mit der aktuellen Situation verleiht den einzelnen Erzählungen Tiefe und lässt einen Spannungsbogen entstehen, der bis zum Ende des Romans aufrechterhalten wird. Lunde verknüpft äußere Handlung und innere Gemütszustände der Figuren und schafft mit wenigen Worten eine beklemmende Atmosphäre, in der sie psychologische Spannungen innerhalb der Beziehungen enthüllt.

Fazit: Lunde präsentiert dem Leser auch in ihrem neuen Roman eine Geschichte mit dystopischen Untertönen. Findet man die Idee eines Stillstandes am Anfang noch attraktiv und sympathisch, geht dieses Gefühl schnell mit Fortlauf der Geschichte verloren. Das Konzept einer Welt, in der die menschliche Entwicklung zum Stillstand kommt, ist sowohl erschreckend als auch zum Nachdenken anregend. Wie verändern sich Werte, Beziehungen und Prioritäten, wenn das Vergehen der Zeit als treibende Kraft nicht mehr spürbar ist?
Eine klare Leseempfehlung, obwohl die die Auflösung am Ende ein wenig enttäuschend ist.