Dystopischer Versuch, die Zeit still stehen zu lassen!

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Wie wäre es, wenn die Zeit stehen bleibt?! Wenn ab sofort niemand mehr sterben, aber auch kein Mensch mehr geboren werden würde?! Maja Lunde lässt sich auf dieses Gedankenexperiment in literarischer Weise ein in ihrem neuem Buch „Für immer“.
Bekannt geworden ist die norwegische Autorin durch ihre vier Romane zum Klimawandel und Artensterben - die ich noch nicht gelesen, aber Band 1 „Die Geschichte der Bienen“ bereits zu Hause habe. „Für immer“ war also mein erstes Buch, das ich von Maja Lunde gelesen habe.

Ist der Tod, der uns alle irgendwann erwartet, nun Fluch oder Segen?!
In ihrem Roman „Für immer“ kommt erstmal nur das menschliche Leben zum Stillstand - die Natur- und Tierwelt lebt, stirbt und gedeiht weiter. Als Protagonisten haben wir Fotografin Jenny - sie war todkrank und kann jetzt weiterleben, dann Otto einen Rentner und passionierten Gärtner, es gibt eine Kinderkrankenschwester und eine Extremsportlerin, die gleichzeitig auch Bestatterin ist.
Die Hauptprotagonistin ist Jenny, eine zweifache Mutter mit Krebs im Endstadium. Die anderen Figuren befinden sich an verschiedenen Stellen ihres Lebens, aber sind alle in Berufen oder sonst wie in einer Situation in ihrem Leben, wo sie sich mit den Themen Leben und Tod konfrontiert sehen. Die einzelnen Figuren verkörpern bestimmte Aspekte des Stillstands. Beispielsweise Jenny, die Fotografin, da gehts ja auch beim Fotografieren an sich darum, dass sie die Zeit im Bild einfriert. Sie gelangt zur Einsicht, dass ihr Leben endlich ist, beginnt wie wild zu Fotografieren und vernachlässigt dabei ihre Familie. Was treibt Jenny also an?! Sie hält die Zeit an mit ihren Fotos ihres Lebens. Ihre Verzweiflung über ihre Krankheit und ihr Leben zieht sich durch das gesamte Buch. Die anderen Figuren werden durch diesen Stillstand in prekäre Situationen versetzt. Ihr Leben verändert sich dadurch und sie spiegeln quasi Jennys Leben wider. Sie als Mutter zweier Kinder sieht sich einer Extremsituation gegenüber, die Frage die natürlich im Raum schwebt: Was passiert mit den Kindern, wenn ich (Jenny) nicht mehr da bin?! Was für ein schwerer Gedanke es sein muss für eine Mutter, wie es für die Kinder sein wird, wenn sie stirbt - das hat mir die Figur Jenny sehr nahe gebracht und hat mein Mitgefühl geweckt.

Am Anfang des Romans freuen sich alle zunächst, dass Jenny doch nicht sterben wird, Ottos Frau blüht richtig auf und feiert mit anderen Rentnerinnen - eigentlich mutet es doch als ganz schöne Vorstellung an, das die Zeit still steht, oder?! Anfangs ja, aber dann wird aus der Freude langsam Verzweiflung, wenn die Figuren realisieren, dass sie so viel Zeit haben, dass sie ja jetzt endlos viel Zeit haben, empfinden sie es nicht mehr als Geschenk. Sie überlegen sich, wie sie zur Normalität zurückkehren können, sie fragen sich nach den Gründen für den Stillstand, insbesondere Verschwörungstheoretiker Phillipp sucht auf die extreme Art und Weise nach Antworten.

Ist der Stillstand der Zeit, auch eine Art Abrechnung für das, was wir Menschen mit der Welt anstellen?! Auf jeden Fall bin ich ins Grübeln geraten über die Natur und wie wir sie behandeln und habe mich gefragt, wo unsere gute Verbindung zur Natur geblieben ist. Die Natur lebt in „Für immer“ weiter - braucht uns praktisch nicht mehr, sie würde einfach weiterexistieren, wenn wir nicht mehr da wären.

Es ist sicherlich ein apokalyptisches Buch - aber geht das Konzept auch auf?!
Es steckt viel Potential in der Idee dieses dystopischen Romans, das Maja Lunde für mich leider nicht voll ausschöpft. Sie kratzt an der Oberfläche, aber hätte für mein Dafürhalten das Konzept der Unsterblichkeit der Menschheit stringenter ausarbeiten müssen und an der einen oder anderen Stelle fehlt es mir auch etwas an Kreativität. Hinzu kommt für mich ein Logikfehler - wie kann die Zeit stehenbleiben, aber die Uhren laufen hingegen weiter?!

Wofür ich den Roman geschätzt habe, ist, dass er mich hat nachdenken lassen, über die Endlichkeit unserer (meiner!) Zeit hier auf Erden und hat in mir zur Frage geführt - nutze ich meine Zeit sinnvoll?! Mache ich wirklich das Beste aus meinem Leben, oder gibts Verbesserungspotential?! Und das gibts sicherlich - ich bin Maja Lunde dankbar für das neu erweckte Bewusstsein für diese Fragestellungen. Bitte macht Euch Euer eigenes Bild von „Für immer“. Ich werde der Autorin auf jeden Fall eine zweite Chance geben mit „Die Geschichte der Bienen“ und bin gespannt, ob sie mich damit mehr überzeugen kann.