Unterhaltsam, aber oberflächlich

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REZENSION – Bekannte Autoren legendärer Klassiker heute in Kriminalromanen als Ermittler auftreten zu lassen, ist nicht neu. Schon seit 2015 lässt Tilman Spreckelsen in seinen Theodor-Storm-Krimis den noch unbekannten Husumer Rechtsanwalt als Detektiv tätig werden. Auch der junge Offiziersschüler Edgar Allan Poe muss im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr Poe“ (2022) von US-Autor Louis Bayard in einem Mordfall ermitteln. Anlässlich des bevorstehenden 150. Geburtsjahres von Thomas Mann (1875-1955) hat nun der deutsch-schweizerische Schriftsteller und frühere Verleger Tilo Eckardt in seinem im November beim Droemer Verlag erschienenen Roman „Gefährliche Betrachtungen“ den deutschen Nobelpreisträger „aus dem Elfenbeinturm der Literatur in den Sand und den Wald der Kurischen Nehrung“ heruntergeholt, wie der Autor im Nachwort erklärt, und ihn zum Ermittler in eigener Sache gemacht. „Ich wollte mir den lebendigen Thomas Mann vorstellen.“
Für seine Recherchen war Eckardt von zwei Stiftungen für zwei Monate ins litauische Nida eingeladen worden. In seinem Roman, einer Mischung aus im Nachwort erläuterten Fakten und reiner Fiktion, lässt er nun seine Figur des inzwischen über 100-jährigen litauischen Übersetzers Žydrūnas Miuleris als Erzähler die angeblichen Ereignisse im August 1930 im ehemals ostpreußischen, seit 1923 litauischen Fischer- und Künstlerdorf Nidden schildern, wo der gerade im Vorjahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Thomas Mann sein für 200 000 Reichmark erbautes Sommerhaus mit Ehefrau Katia und den jüngsten Kindern Michael und Elisabeth bezogen hat. Der damals erst 20-jährige Miuleris will sich dem verehrten Dichter als Übersetzer des Romans „Buddenbrooks“ andienen.
Im Laufe des Geschehens kommt es durch die Ungeschicklichkeit von Miuleris zum Diebstahl einiger Blätter mit der Abschrift brisanter Notizen, die sich Thomas Mann als Entwurf für eine geplante politische Rede gemacht hatte. Mann und dem jungen Litauer muss es nun gelingen, diese Abschriften schnellstmöglich wiederzubekommen, bevor sie in die Hände möglicher Nazi-Sympathisanten geraten. Dass Mann seine „Deutsche Ansprache“ tatsächlich am 17. Oktober in Berlin als Reaktion auf die Reichstagswahlen im September gehalten hat, ist Tatsache. Die angebliche Vorgeschichte in Nidden ist dagegen reine Fiktion, wie Erzähler Miuleris betont: „Für die Behauptungen, die ich in diesem Buch aufstelle, gibt es nicht die geringsten Beweise.“
Tilo Eckardts Roman „Gefährliche Betrachtungen“ über den Diebstahl der Abschrift und dessen Aufklärung durch den Nobelpreisträger, der sich selbst gern in der Rolle von Sherlock Holmes sieht, sowie den jungen Litauer, den Mann zu seinem Dr. Watson erklärt, ist trotz seiner Kennzeichnung als Kriminalroman leider recht harmlos und keineswegs spannend, sondern lässt seine Leser allenfalls aufgrund einiger Szenen und der naiven Tolpatschigkeit und Unerfahrenheit des 20-jährigen Miuleris eher schmunzeln.
Interessanter ist der im Nachwort von Eckardt beschriebene historische Hintergrund: Es ist die Zeit zwischen der Auflösung des Reichstags und der bevorstehenden Neuwahl im September 1930, die Zeit des Erstarkens der Nazis, vor deren Machtübernahme Thomas Mann das deutsche Volk in einem Essay oder einer Rede warnen will. So sagt Mann im Roman: „In meiner Heimatstadt Lübeck waren sie im letzten November nur leidlich erfolgreich mit gut acht Prozent der Stimmen. Im Dezember in Thüringen bekamen sie schon über zehn Prozent. Und bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen errangen sie sogar fünfzehn Prozent der Stimmen und sind damit die zweitstärkste Partei.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Was auch immer im September geschieht, die Gefahr, dass mein geliebtes Deutschland sich freiwillig der Barbarei ausliefert, wird auf Jahre hinaus nicht gebannt sein.“ Nach der Reichstagswahl im September bildeten die Nazis die zweitstärkste Fraktion nach den Sozialdemokraten. Manns öffentliche Warnung an das deutsche Volk vor bald 95 Jahren scheint heute wieder an Aktualität zu gewinnen.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Roman „Gefährliche Betrachtungen“, dem im nächsten Mai „Unheimliche Gesellschaft“ als zweiter Band folgen soll, ein harmloser, durchaus netter Unterhaltungsroman ist, dem es aber leider an Spannung und dessen Figuren es an Tiefe fehlt. Der Roman könnte allerdings eine Anregung sein, sich mit dem in seinen Reden und Essays politisch aktiven Thomas Mann näher zu befassen. Hierfür eignet sich das zeitgleich mit Eckardts Roman im November veröffentlichte Buch „Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist“ des ausgewiesenen Mann-Experten Kai Sina.