Beruhigungsmittelkonsum - die Lösung um den Büroalltag besser zu ertragen?!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
literatursprechstunde Avatar

Von

Das war mal wieder eins dieser typischen Bücher, die mich aufgrund ihres Covers gecatcht haben. Doch nun zur Frage aller Fragen: Kann der Inhalt mit dem wunderschönen Cover mithalten?! Ich bin froh, diese Frage eindeutig mit Jaaa! beantworten zu können.

Marisa ist in ihren Dreißigern und hasst ihren Job und alles was damit zusammenhängt - auch ihre Kollegen, ihren Chef. In einer Madrider Werbeagentur widmet sie sich mehr schlecht als recht den ihren Augen sinnlosen Werbekampagnen. Also delegiert sie alles was irgendwie geht an ihr Team und Praktikanten sowie Studenten - während sie selbst sich während ihrer Arbeitszeit lustige Tiervideos auf YouTube anschaut. Aber es kommt noch übler: Sie hasst auch ihr Leben. Ihre sozialen Kontakte begrenzen sich auf ein Minimum, genauer gesagt auf ihren Nachbar Pablo mit dem sie eine Freundschaft plus verbindet. Um dem ganzen Wirrwarr ihres Lebens gedanklich zu entfliehen, betäubt sie sich selbst mit Alkohol und einem Beruhigungsmittel namens Tavor (ein Benzodiazepin, das schnell und stark süchtig macht). Die Tabletten nehmen einen immer größeren Raum ein in ihrem Leben, denn Marisa glaubt ohne sie nicht durch ihren Alltag zu kommen und beschreibt ihre Wirkung wiefolgt:

„Ich bin an einem unsichtbaren Faden aufgehängt, der mich nach oben zieht und mich über alles und alle erhebt, über Dinge und Menschen, über alles Wichtige und alles Unwichtige. Ich fühle mich ein bisschen schwindelig berauscht, wie von zwei Gläsern Wein, aber nicht wie von einer ganzen Flasche. Das Gefühl ist inzwischen so vertraut, dass ein Teil von mir es immer mehr als Zuhause angenommen hat.“

Klingt nach einer Person, die man dringend mal schütteln möchte mit dem Rat, dass es so nicht weitergehen kann und sie dringend etwas ändern muss, oder?!
Auch wenn ich nie einen Bürojob hatte, kann ich Marisas Struggle nachvollziehen.

„Weder der Arzt noch meine spätere Therapeutin verstanden je, dass mein Stress nicht durch die Arbeit an sich ausgelöst wurde, sondern durch die Tatsache, überhaupt zur Arbeit gehen zu müssen. Acht Stunden täglich von Montag bis Freitag mit entfremdenden und unbefriedigenden Aufgaben verbringen zu müssen, und das umgeben von Leuten, mit denen ich unsinnige und langweilige Gespräche voller Gemeinplätze über Hypotheken, Garagenplätze, von ihren Kindern falsch ausgesprochenen Wörtern oder die neue Netflix-Serie führen musste. All diese Zeit verschenkte ich an andere, statt zu Hause zu lesen oder zu zeichnen oder einfach nur halbnackt an die Decke zu starren und die Risse im Putz zu betrachten. Ich konnte es nicht ertragen, diese Pflicht-Pantomime im Büro tagtäglich und für immer leben zu müssen, um Dinge wie Miete und Essen und ein Buch oder ein Wochenende am Strand bezahlen zu können. Ich brach jeden Morgen zusammen, wenn der Wecker klingelte, weil das Leben, so wie ich es lebte, einer schlecht geschriebenen Tragödie gleichkam: langweilig, steril, ohne jeden Witz und, was am schlimmsten war, ohne Handlung.“

Marisa reflektiert zunehmend ihr Leben und ihre Arbeit, es scheint zu stagnieren, sie fühlt sich, als ob sie feststeckt. Ich kann ihre Gedanken gut nachempfinden - Beatriz Serrano schafft es, ihre Leser emotionale Nähe aufbauen zu lassen zu ihrer Figur. In diesem Zusammenhang möchte ich Euch auch von einer weiteren ihrer Alltagsfluchten erzählen, die ich sehr gut nachvollziehen kann, da ich ihr selbst bei Gelegenheit gerne nachgehe. Marisa hat Kunstgeschichte studiert und ist stolze Besitzerin einer Dauerkarte für das Kunstmuseum Prado in Madrid und besucht dort regelmäßig ihr Lieblings-Kunstwerk „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch, in dem sie sich immer wieder aufs Neue verliert und zuvor noch nicht wahrgenomme Details entdeckt. Einst träumte sie auch davon im Prado zu arbeiten umgeben von ihrer geliebten Kunst - umso verständlicher, warum sie ihr Arbeitsalltag in der Werbeagentur nicht happy macht, aber es ist eben ein lukrativerer Job als die Arbeit im Kunstmuseum. Genau diese Passage hat mich darüber nachdenken lassen, wie wichtig es ist, seinen Träumen nachzugehen. Marisa hängt jedes Mal ihren Träumen von einem Leben in der Kunstwelt nach, wenn sie vor ihrem Lieblingswerk steht. Und auch ich stehe gerade vor einem Scheideweg: Ich habe mein Medizinstudium beendet und muss mich nun für eine Facharztweiterbildung entscheiden - das fällt mir nicht leicht, denn es ist eine sehr weitreichende Entscheidung, aber dieses Buch hat mich daran erinnert, wie wichtig es ist bei einer solchen Entscheidung seine persönlichen Träume im Blick zu behalten. Danke dafür Beatriz Serrano, für mich war diese (Neben-) Szene, die wichtigste des ganzen Buches.


Aber nun weiter, auf ein anstehendes Teambuilding-Wochenende, auf das Marisa so gar keine Lust hat, entscheidet sie sich Drogen mitzunehmen, um das Ganze etwas aufzupeppen - eine folgenschwere Entscheidung, von der ich an dieser Stelle nicht mehr verraten möchte.

Voller Sarkasmus, Humor und dem nötigen Biss erzählt Autorin Beatriz Serrano von einer jungen Frau, die sich mit allen möglichen Mitteln, sogar Drogen, versucht von ihrem Leben zu distanzieren, letztlich auch aufgrund einer Angststörung. Die Realität ist härter, als sie es ertragen kann, also dämpft sie diese mithilfe von Beruhigungsmitteln und Alkohol ab oder verschafft sich mal einen schnellen Dopaminkick mithilfe von Gelegenheitssex mit ihrem Nachbar Pablo. Die große Frage ist natürlich: Wie würde sie ihr Leben ohne gewisse Hilfsmittelchen empfinden?! Dann müsste sie sich wohl ernsthaft mit der Einsamkeit und Leere in ihrem Leben auseinandersetzen, vor der sie so stringent flüchtet.
Beatriz Serrano verhandelt in „Geht so“ die wichtigen Fragen des Lebens - sie konfrontiert uns letztlich mit uns selbst, denn die Lektüre ist aufwühlend und erfordert Mut, sich mit sich selbst, seinen Träumen und inwiefern man sie lebt, auseinanderzusetzen. Bleibt nur die Frage: Traust Du Dich an die Lektüre oder ist Deine Angst vor den Antworten zu groß?!